Ich würde gerne als Person, aber auch als Admin/Mod dieses Forums einmal einen Thread eröffnen, in dem es darum geht, was EUCH persönlich geholfen hat, mit dem Stottern besser umzugehen.

Jeder wird sicher im Leben eine Art VORHER - NACHHER haben.
✔ Wie sah der IST-Zustand vorher aus?
✔ Wo lag der Wendepunkt?
✔ Was hat sich geändert?
✔ Was habe ich vorher anders gemacht als heute?
✔ Wie ist der IST-Zustand heute?

Wenn wir alle unsere Erfahrungen einbringen, dann können wir vielen stillen Mitlesen*innen eine Inspiration sein und sie animieren, es auch zu probieren.
Freue mich auf einen großen Pool an Erfahrungen!
LG
Petra

Wie sah der IST-Zustand vorher aus?

Ich kann mich an meine Kindheit bzw. an mein damaliges Stottern nur szenenweise erinnern. Nämlich an Szenen, die mich besonders heruntergezogen haben und die mir dadurch, dass sie emotional so belastend waren, noch bis ins kleinste Detail präsent sind. Ich weiß, dass es Momente gab, in denen ich völlig sprachlos war. Und die Menschen drumherum nannten es Stottern! Auch wenn meine Mutter der Ansicht war, ich "kriege nur die Wörter nicht richtig raus."
Vor allem in meiner Jugend habe ich oft darüber nachgedacht und nach Lösungen gesucht. Ich fand keine, denn immer wenn ich die Situationen, in denen ich sprachlos vor der Klasse stand, zu Hause nachspielte, um einen Weg zu finden, wie ich es beim nächsten Mal besser machen könnte, gab es überhaupt keine Sprechprobleme. Und wenn ich wieder in der Gruppe war, dann ZACK waren sie wieder da.

Ich hatte nie Angst zu sprechen, nur verdammte Angst davor, in genau dem Moment, in dem ICH es wollte, ein bestimmtes Wort nicht herauszukriegen.
Ich sprach schnell, ich sprach viel, und jede Kritik an meinem Sprechen trafen mich bis ins Mark.
Ich rannte oft sehenden Auges in einen Block, weil ich immer glaubte, dass Entschlossenheit doch ausreichen müsste, um MEIN Sprechen zu beherrschen. Es klappte auch manchmal, aber manchmal eben nicht. Und dann stand ich da und schämte mich in Grund und Boden, weil das Wort einfach nicht kam. Und dann wurde ich albern, um meine Scham zu überspielen. Aber im Grunde war ich todunglücklich.

Meine Symptomatik war immer eher tonisch, das heißt ich hatte Blocks, die auch mal lange, sehr lange dauern konnten. Schon früh hatte man mich darauf geeicht, dass K-K-K-K-Köln zu sagen Stottern ist, also klang es bei mir eher wie K_____öln. Und das mit angestrengtem Gesicht. Bei den kleinsten Wiederholungen fühlte ich mich ertappt und kriegte unsägliche Schamgefühle. Vor allem in Gegenwart meiner Eltern. Und bei Fremden war ich dann sehr angespannt, weil ich Angst hatte, sie würden mir gleich ins Gesicht sagen: "Ach, du stotterst ja!"
Ich hätte das niemals zugeben können. Jede Ausrede war mit recht, nur nicht dass es Stottern ist. Es hätte mein Selbstwertgefühl auf minus 100 gesetzt.

Wo lag der Wendepunkt?

Der Wendepunkt war die Begegnung mit einem sehr sympathischen stotternden Jungen im Alter von 16. Ich sprach ihn nach langen inneren Kämpfen darauf an und das, indem ich erstmals mein eigenes Stottern offen zugab.
Die Antwort: "Klar, stottere ich." Auf die Frage, ob ihm das gar nichts ausmache, sagte er: "Nö."
Einfach NÖ. Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte man deutlich hörbar stottern, es auch noch zugeben und dann sagen, es mache einem nichts aus?
Das war mein persönlicher Wendepunkt. Ich sagte mir: Das kann ich auch!
Und ich beschloss, mich nie wieder über mein Stottern zu ärgern. Ein Beschluss, der bis heute gilt.

Und ich begann einfach, mit meinem Umfeld über mein Stottern zu reden. Es zuzugeben, es anzusprechen.
Ich traute mich erstmals, darüber ohne schlechtes Gewissen nachzudenken (denn früher dachte ich immer, wenn ich darüber nachdenke, gebe ich ja zu, dass es da ist und rufe vielleicht die Geister selber herbei).
Wie paradox! Als ich es zuließ darüber nachzudenken, verabschiedeten sich die Geister nach und nach und ließen mich immer mehr in Ruhe.
Es ging so weit, dass Menschen, mit denen ich über mein Stottern reden wollte, mir sagten, "du stotterst doch gar nicht, kennst du den XY, der stottert richtig..."
Dies verunsicherte mich sehr, und es führte dazu, dass ich mich für meine vorherige Einstellung selbst tadelte.
Wieso habe ICH mir das Leben so schwer gemacht?

Ein Phoniater, der mich einmal wegen Stimmproblemen untersuchte, brachte einen weiteren Wendepunkt. Denn er sagte mir, dass mein Stottern eben NICHT einfach weg sei, weil Stottern nicht heilbar ist, und dass es auch Stottern sein kann, wenn es meine Mitmenschen nicht wahrnehmen, ich aber sehr wohl spüre, dass es mit dem Sprechen nicht richtig läuft bzw. ich verdeckte Symptome zeige.

Was hat sich geändert?

Ich brauchte mir keinen Kopf mehr zu machen, ob ich ein Wort sagen kann oder nicht, denn ich kann es ja erklären - ehrlich erklären, ohne dumme Ausreden wie "ich habe das Wort vergessen" oder "ich war zu aufgeregt". Ich konnte jetzt sagen "ich stottere".
Ich war innerlich nicht mehr angespannt, ich traute mich, mich jeder Sprechsituation, die mir vorher Unwohlsein beschert hatte, zu stellen. Und siehe da: die schlimmen Blocks, die mein Hauptproblem waren - die, aus denen ich alleine nicht herauskam, lösten sich von selber auf.
Die kleinen Sprechprobleme, z.B. wenn ich Wörter mit NIEDER (Niedersachsen, Niederlande, Niederlage) sage oder 2-3 aufeinanderfolgende Wörter mit N wie "nur noch nicht" oder "nicht nochmal" blieben, aber sie warfen mich nicht aus der Bahn.
Immerhin war ich bereit, immer und überall zuzugeben, dass ich mal wieder gestottert habe.

Was habe ich vorher anders gemacht als heute?

Wie schon beschrieben, meine größte Angst war stets, als Stotternde entlarvt zu werden.
Darum bin ich auch vor Leuten, die mich darauf ansprachen, weggelaufen und habe das Stottern stets geleugnet.
Das ist auch das einzige, was ich wirklich geändert habe: mich selbst dazu zu bekennen und bereit zu sein, es jederzeit anzusprechen.
Und dann habe ich mich einfach nicht mehr darüber geärgert, wenn was im Sprechen schief lief, weil "Stottern nicht heilbar ist".

Wie ist der IST-Zustand heute?

Seitdem ich mich nach einer langen Periode, in der ich geglaubt hatte, das Stottern sei für immer passé, wieder mehr mit dem Thema beschäftige, spreche ich einfach so, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich habe alle Vermeidungsstrategien analysiert und aufgedeckt und seitdem ich Stottern zulasse festgestellt, dass es sich immer mal wieder zeigt.
Die Selbsthilfe, der ich mich erst zuwandte, nachdem ich im alten BVSS-Forum viel Unterstützung bekommen hatte, brachte mir endlich Antworten und zeigte mir, dass ich mit all diesen schrägen Gedanken und Gefühlen nicht allein bin - und auch, dass ein leichtes Stottern sehr belastend sein kann und ich keinen Grund habe, mich über meine alte Einstellung zu ärgern.

Ich habe vieles im Leben gemacht, nur weil andere es mir zugetraut haben. Dafür bin ich einerseits dankbar, andererseits habe ich mich oft schwer überschätzt und hatte ein schlechtes Gefühl bei Dingen, die ich dann tat, nur weil andere es mir zutrauten.

Ich bin heute als Dolmetscherin gerne mit Leuten unterwegs und weiß auch, dass ich meistens nicht dabei stottere. Aber ich erlaube mir auch zu stottern, wenn es denn sein muss. Und dann spreche ich es einfach an, bevor ich komische Blicke ernte.
Meistens spreche ich flüssig, und die Unregelmäßigkeiten in meinem Sprechen lösen auch keine schlechten Gefühle aus, obwohl ich manchmal immer noch komische Dinge danach mache, auf die ich keinen Einfluss habe.

So, dies ist ziemlich lang geworden, soll euch aber nicht davon abhalten, euren eigenen Weg darzulegen, auch wenn es wesentlich kürzer wird.
Schönen Tag noch
Petra