Ich habe im Laufe meines Lebens die Erkenntnis gewonnen, dass Lebenserfahrungen sich umso mehr einprägen, je mehr sie einen emotional berühren.
Aber auch Emotionen haben nicht immer dieselbe Tiefe, wobei negative Emotionen noch viel langlebiger sind als schöne Erinnerungen.
Nach über 50 Lebensjahren weiß ich heute, dass es kein Thema in meinem Leben gegeben hat, das so tiefe Emotionen hinterlassen hat wie das Thema Stottern.
Erst neulich blätterte ich durch alte Fotoalben, und mir fiel folgendes Bild in die Hände mit der handschriftlichen Notiz: Weißbriach, Juni 1976:
Bild entfernt (keine Rechte)
Und sofort war sie da, eine Erinnerung, die ich so detailliert wieder abrufen konnte, als wäre es gestern gewesen.

Es war Sommer 1976, ich war 13 Jahre alt. Meine Schwester war erstmals nicht mit uns zusammen im Urlaub, weil sie eine Sprachreise nach England mit ihrer Freundin gebucht hatte.
So war ich mit meinen Eltern allein im schönen Kärntener Land in Österreich. Für mich die Chance, nach einem Pferdehof zu suchen, wo man einen Ausritt buchen konnte.
Wir fragten uns durch und kamen zu einem Hof in Weißbriach. Die Bäuerin trug mich für einen Ausritt in zwei Tagen ein und zeigte mir die Pferde.
"Such dir eins aus", sagte sie zu mir, und mir gefiel sofort ein Fuchs, der auf den schönen Namen Aras hörte.
Und was frappierend war: dieser Fuchs sah der Fuchsstute Sara an meinem heimatlichen Reitstall zum Verwechseln ähnlich.
Sofort stellte ich fest, dass nicht nur das Aussehen gleich war, auch der Name: Aras hieß nämlich rückwärts gelesen Sara. Was für ein grandioser Zufall!
Für mich als 13-Jährige ein Grund, dies UNBEDINGT der Treckführerin in 2 Tagen bei unserem Ausritt zu sagen.

Aber schon als ich in der Stallgasse stand und darüber nachsann, dass ich das unbedingt sagen müsste, überkam mich ein klammes Gefühl. Wie in drei Teufels Namen würde ich einer Fremden gegenüber den Namen ARAS aussprechen können. Ein Name auf einen VOKAL!
Und in Gedanken übte ich schon, wie ich es sagen würde: "Das Pferd, das ich hier reite, heißt dochAras." Ohne Pause, ohne Knacklaut.
Ich war wild entschlossen, das so zu versuchen.

Und dann kam der Tag. Zwei Tage später. Meine Eltern brachten mich auf den Reiterhof, ich machte meinen Aras fertig, die Treckführerin ihrerseits machte ihr Pferd bereit, aber außer mir war nur noch ein weiteres Mädchen mit am Start, fast schon eine junge Frau, vielleicht 1-2 Jahre jünger als die Treckführerin, die sich als 21 Jahre alt vorgestellt hatte.

Und dann ging es los. Wir machten uns kurz bekannt, dann setzte ich an: "Das Pferd, das ich hier reite, heißt doch..."
Und es ging nicht weiter. Ich setzte erneut an, "das Pferd hier heißt doch..." Unmöglich. Ich geriet immer mehr in Hektik, in helle Aufregung, versuchte es noch einmal und noch einmal, völlig kopflos!, und geriet immer wieder in denselben Block.

Bis die Treckführerin sagte: "Aras".
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Aber wie tarnte ich diesen Block jetzt als "hab das Wort vergessen"?
Ich wollte ihr doch sagen: "Und es sieht genauso aus wie die Stute Sara bei uns im Reitstall. Und Sara heißt rückwärts Aras."
Hätte ich den Namen ARAS nur vergessen, dann wäre doch so eine Aussage paradox. Denn ich hätte SARA nur wieder umzudrehen brauchen und hätte meinen ARAS.
Wie konnte ich also nun noch so tun, als wäre das ein "Vergessen" gewesen?
Allein diese Gedanken machten mich völlig fertig. Völlig versaut die Pointe meiner kleinen Anekdote.

Und kaum dass das Wort ARAS im Raume stand, konnte ich es auch wieder sagen. Nicht einmal, nein, ich hätte es gleich 100 Mal sagen können.
Ich schämte mich in Grund und Boden. Und ich MUSSTE der Treckführerin jetzt beweisen, dass das kein Stottern, dass das nur ein Ausrutscher war.
Also erzählte ich ihr was von Gott und der Welt, und ich geriet auch nicht EINMAL wieder in einen ähnlich schlimmen Block...

Bis sie dem anderen Mädchen ihre Aufmerksamkeit schenkte und sie fragte, was die so machte. Und als das Mädchen den Mund aufmachte, da stotterte sie, dass sich die Balken bogen.

Ich war emotional völlig am Ende. Einerseits fühlte ich mich erleichtert, weil ja "das bisschen Stottern" bei mir gegenüber dieser schweren Symptomatik überhaupt nicht ins Gewicht fiel, andererseits tat sie mir richtig leid, zumal man ihr auch anmerkte, dass sie das Sprechen sehr anstrengte. Ob sie wohl erkannt hatte, dass ich stottere?

Ich habe an den Ritt selbst kaum Erinnerungen, aber diese Episode sitzt so tief, dass ich sie noch ganz genau weiß.
Und ich erinnere mich auch, dass ich meinem Vater unter ganz üblen Gefühlen auf dem Rückweg zu unserer Pension erzählt habe, dass das andere Mädchen ganz furchtbar gestottert hat.
Und mein Vater begann mit seinen üblichen, wohl gemeinten Ratschlägen. Dass man so etwas nicht ansprechen sollte, dass man darüber nicht lachen sollte, dass das Mädchen da ja nichts für könne...
Wem sagte er das?

Von meinen Gefühlen und dem schier endlosen Block, der mir noch Jahre später so präsent ist, habe ich allerdings nichts erzählt.