Hallo zusammen,

ich heiße Viktoria, bin 39 und stottere seit der frühen Kindheit. Meine Schwester und mein Vater stottern ebenfalls. Meine Mutter hat so ziemlich nichts unversucht gelassen, um meine Schwester und mich vom Stottern zu "befreien" - vergebens. Im Hinblick auf Stottern sieht meine Kindheit bestimmt ähnlich der Kindheit vieler anderer Stotterer aus. Ich wurde gehänselt, hatte immer Angst und Scham, vor der Klasse zu sprechen usw. usf. Ich war bis 2016 mit meinem Stottern gern allein, verdrängte es trotz offensichtlicher Symptome und hoffte einfach auf bessere Zeiten, die zwar kamen, jedoch nie lange anhielten.

Heute arbeite ich in der Erwachsenenbildung und unterrichte Deutsch als Fremd-/Zweitsprache. Schon als ich angefangen hatte, diesen Beruf auszuüben, stellte ich fest, dass ich beim Unterrichten nicht stottere. Es lag wohl daran, dass ich (aus didaktisch-methodischen Gründen) langsam und deutlich sprechen musste. Ich nenne diese meine Sprechweise "Doziermodus". So habe ich für mich genau den richtigen Beruf - nämlich einen Sprechberuf - gewählt. So widersprüchlich das auch sein mag.

Außerhalb des Unterrichts habe ich jedoch immer noch gestottert und zeitweise sogar so stark, dass ich meinen "Doziermodus" im Alltag anwenden musste, um mich überhaupt einigermaßen mitteilen zu können. Ich kam mir dabei aber irgendwie blöd und unnatürlich vor. In der Zeit las ich schon eine Weile in dem ehemaligen BVSS-Forum mit. In meiner damaligen Verzweiflung stellte ich mich dort vor. Auf diese Weise entstanden persönliche Kontakte, die mich in die Stotterer-Szene eintauchen ließen. Ich habe mich z.B. mit PetraS ausgiebig über das Thema Stottern ausgetauscht und tue dies bis heute. Ich habe lernen und akzeptieren müssen, dass Stottern zu mir dazugehört, und dass ich mich deswegen nicht schämen muss. Stottern war plötzlich kein Tabu-Thema mehr für mich. Ungefähr ein Jahr später merkte ich, dass mir das Sprechen viel leichter fiel, und dass ich einfach viel weniger stotterte. Später habe ich erfahren, dass dieses Phänomen auch als Desensibilisierung bezeichnet wird.

Neulich hatte ich mal wieder eine Phase, in der ich verhältnismäßig seltene, jedoch schwere Sprech-Blocks hatte. Solche Phasen kommen und gehen. Sie erinnern mich aber auch daran, dass ich immer noch ein Stotterer bin und es auch immer bleiben werde. Ich habe dank dem Austausch mit anderen Stotternden mit meinem Stottern Frieden geschlossen. Das hat meine Lebensqualität enorm verbessert. Und genau diesen Effekt wünsche ich allen mitschreibenden und mitlesenden Stotterern hier im Forum!

Hallo Viktoria,

bei Deiner Vorstellung fand ich die Passage sehr interessant, dass Du beim Unterrichten weniger stotterst als außerhalb Deiner Tätigkeit. Ich habe in meinem Berufsleben ganz ähnlich Erfahrungen gemacht. ich war 9 Jahre lang bei einer Dienstleistungsfirma angestellt und habe sehr oft bei fremden Firmen vor Ort Produkte vorgestellt, kleine Workshops abgehalten oder einen Auftrag ausgeführt, bei dem ich dann z. B. diverse Leute in einer Art Interview befragt habe. Dabei habe ich auch gemerkt, dass mir das Sprechen deutlich leichter fällt. Vielleicht lag es daran, dass ich von meiner Sache überzeugt war und glücklich war, den Kunden etwas erklären zu können. Man schlüpft dann tatsächlich in eine Art Rolle hinein. Ich habe praktisch nur positive Resonanz bekommen. Niemand hat mein gelegentliches Stottern gestört. Es war eher das Gegenteil von dem, was man so als Stotterer normalerweise als Feedback erwartet.
Ich hoffe, dass auch andere Stotterer durch solche Erlebnisberichte Mut fassen können, sich für solche eher typischen Sprechberufe zu interessieren.

Liebe Grüße

Lars

Hallo Lars,

Du hast zwei wichtige Faktoren erwähnt: "von meiner Sache überzeugt [...] und glücklich war, den Kunden etwas erklären zu können" und "man schlüpft [...] in eine Art Rolle hinein". Wenn Du den anderen in welcher Weise auch immer überlegen bist, stotterst Du meistens viel weniger als sonst. Ich denke, genau dieser Faktor macht auch mir das Sprechen im Unterricht leichter, weil ich dort diejenige bin, die etwas zu sagen hat. Man sagt ja auch, dass wenn Stotternde mit Kindern sprechen, stottern sie weniger, weil sie den Kindern (möchte ich jetzt nicht ausführen warum) überlegen sind.

Der zweite Punkt ist, dass viele Stotternde nicht stottern, wenn sie eine Rolle spielen - unabhängig davon, ob im Theater/Film oder im realen Leben. Von stotternden Schauspielern hört man oft, dass dieser Effekt wesentlich zu ihrer Berufswahl beigetragen hätte.

Liebe Grüße,
Viktoria
P.S.: Grüß' mir schön Aachen! Ich habe bis 2013 in der Vaalser Straße, gegenüber der Jakobskirche gewohnt :-)

Hallo Chiara,

bis jetzt hat mir die Desensibilisierung genügt. Wenn ich Blocks oder andere "Schwierigkeiten" habe, wende ich meinen Doziermodus auch im Alltag an. Ein Therapeut hat mir einmal gesagt, ich hätte mich selbst therapiert. Das war (unter anderem) ein Grund, warum ich die "Viermal- fünf-Therapie" (basiert auf Van Riper Methode) abgebrochen habe.

Leider bin ich in keiner Selbsthilfegruppe aktiv, weil es in Dinslaken (eine Kleinstadt im Ruhrpott) keine Selbsthilfegruppe gibt. PetraS hat mich ein oder zweimal in die Kölner Gruppe mitgenommen, als ich in Köln war. Für mich sind solche Kontakte, Treffen, Kongresse und auch das Forum hier ein wichtiges Mittel, meine eigene Desensibilisierung am Köcheln zu halten. Ich glaube, wenn ich damit aufhören würde, würde sich meine Symptomatik wieder verschlechtern. Ich denke, Desensibilisierung ist ein Prozess, der uns unser ganzes Leben begleiten sollte, damit wir flüssig bleiben.

Ich habe aber auch Menschen kennengelernt, deren Symptomatik leider so massiv und "vielseitig" war, dass in ihrem Fall Desensibilisierung allein nicht gereicht hätte.

Liebe Grüße und vielen Dank für die lieben Wünsche,

Viktoria

Zitat von ViktoriaM im Beitrag #4

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P.S.: Grüß' mir schön Aachen! Ich habe bis 2013 in der Vaalser Straße, gegenüber der Jakobskirche gewohnt :-)

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