Hallo, liebe Eltern,
Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, dann fallen mir viele Fragen ein, auf die ich nie eine Antwort erhalten habe, weil ich sie einfach nie gestellt habe. Und wenn ihr wissen wollt, warum ich sie nie gestellt hätte... Nicht weil sie mich nicht interessiert hätten, im Gegenteil, sie interessierten mich ganz außerordentlich, aber ich habe sie dennoch nie gestellt, da unser familiäres Umfeld mich von Anfang an darauf eingeschworen hatte, dass derartige Fragen verboten sind, tabu sind, dass es sich einfach nicht gehört, so etwas zu fragen.

Darum ist meine Bitte an euch: wenn ihr ein stotterndes Kind habt, versucht bitte eine Atmosphäre zu schaffen, in der es sich traut, jede Frage zu dem Thema zu stellen, und in der es auch die kindgerechten und passenden Antworten dazu erhält. Niemand sollte dieses Leid heute noch erleben!

Frage Kind: Mama, warum kann ich nicht so sprechen wie die anderen Kinder?
Antwort Mutter: Mein Schatz, du hast eine Sprechstörung, die man Stottern nennt.

Frage Kind: Gibt es noch andere stotternde Kinder außer mir?
Antwort Mutter: Mein Schatz, es gibt ganz viele Menschen, die stottern. Ein Mensch von hundert Menschen stottert, das ist ganz schön viel. Und es gibt auch viele bekannte Menschen, die stottern, zum Beispiel Ed Sheeran oder ...

Frage Kind: Geht denn das Stottern auch wieder weg?
Antwort Mutter: Mein Schatz, manchmal geht das Stottern bei Kindern wieder weg. Aber selbst wenn es nicht weggeht, haben wir dich ganz genau so lieb, wie du bist!

Frage Kind: Die anderen sagen immer, sprich mal so... oder sprich mal so... Mache ich beim Sprechen etwas falsch?
Antwort Mutter: Mein Schatz, du machst nichts falsch beim Sprechen. Aber die anderen verstehen nicht, was Stottern ist. Sie sagen sowas aus Unwissenheit, du musst ihnen verzeihen und es ihnen erklären.

Frage Kind: Mama, wieso kann ich bei dir, Papa und bei meinem Bruder meistens normal sprechen, mit anderen Menschen aber nicht?
Antwort Mutter: Mein Schatz, das ist bei allen Menschen, die stottern, so. Du musst es den Menschen erklären, du musst ihnen sagen, dass du wegen des Stotterns manchmal nicht so sprechen kannst, wie du willst, dann werden sie auch Verständnis haben.

Frage Kind: Die anderen behandeln mich immer so, als würde ich etwas falsch machen. Bin ich selbst schuld an meinem Stottern?
Antwort Mutter: Nein, du bist nicht schuld an deinem Stottern, Stottern ist eine Störung, die manche Menschen nun mal haben. So wie es Menschen mit einem Gehfehler gibt oder andere eine Brille brauchen. Du bist auch mit dem Stottern nicht weniger wert als andere Kinder, und wir haben dich immer so lieb, wie du bist.

Frage Kind: Die anderen Kinder können so schön sprechen, aber wenn ich es versuche, klappt es nicht. Bin ich zu dumm, um richtig zu sprechen?
Antwort Mutter: Mein Schatz, du bist nicht dümmer als alle anderen Kinder, vielleicht bist du sogar schlauer als die. Du hast nur beim Sprechen Probleme, bei allen anderen Dingen bist du ganz genauso wie die anderen Kinder.

Man kann die Liste dieser Fragen und Antworten noch weiter ausführen, vielleicht fallen euch noch weitere Fragen ein, die euch auf der Seele gebrannt hätten, die ihr euch aber nicht getraut habt zu stellen.

Ich glaube, wenn ich mich getraut hätte, diese Fragen zu stellen, und wenn ich ehrliche Antworten erhalten hätte statt beschämtes Weggucken und ein Eindämmen der Thematik, dann hätte ich es vielleicht leichter gehabt.

Totschweigen ist jedenfalls keine Lösung. Ein offener Umgang schon. Aber nur soweit, wie das Kind die Thematik an sich heranlässt. Und das wechselt im Laufe des Lebens, das weiß ich von meinen Kindern, auch wenn die nicht vom Stottern betroffen waren.

Ich habe erst mit 35-40 Jahren begonnen, meine Kindheit aufzuarbeiten und all die negativen Gefühle abzulegen. Es fiel mir noch lange schwer, das Wort Stottern überhaupt in den Mund zu nehmen, und wenn ich es irgendwo hörte, dann reagierte ich immer noch mit Herzklopfen und Rotwerden.

Warum schreibe ich das alles? Es liegt mir sehr am Herzen, dass Leute von heute nicht in die Fehler von gestern verfallen. Und sucht in jedem Falle eine/n für Stottern ausgebildete/n Therapeut*in auf, um euch beraten zu lassen!
Wenn auch kein/e Therapeut*in versprechen kann, das Stottern *weg* zu machen, so kann er/sie doch sehr dabei helfen, einen guten Umgang damit zu erlernen; und bei etwas Glück verschwindet das Stottern noch im Kindesalter, wie es gekommen ist.
Und wenn es bleibt, dann seid ihr gerüstet und könnt auf eine starke Gemeinschaft zurückgreifen.

Bleibt gesund!

Hallo @Annika ,
danke für deine Antwort.

Ja, du triffst voll ins Schwarze. Es sind die Antworten, die ich mir gewünscht hätte, aber auch gleichzeitig die Antworten, die ICH meinen Kindern gegeben hätte, wenn das Thema Stottern bei uns akut gewesen wäre.

Und weil ich weiß, dass einige Eltern heute immer noch beschämt weggucken und die Problematik kleinreden, sind die Antworten auch eine Blaupause für die Eltern, die heute mit diesen Fragen konfrontiert werden könnten.

Zitat von Annika im Beitrag #2

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Ich selbst habe als Kind zwar ähnliche Fragen in mir getragen, hätte sie meinen Eltern aber niemals stellen brauchen. Denn eine hilfreiche Antwort hätte ich nicht erhalten.

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Zitat von Annika im Beitrag #2

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Ich hatte vor einiger Zeit ein wirklich beglückendes Sprecherfolgserlebnis im Verwandschaftskreis (sprechen innerhalb der eigenen Familie war für mich immer SEHR!!! schwer). Ich wollte dieses Glück mit den Eltern teilen im Sinne von „ich war so glücklich, dass ich endlich ...“. Meine Eltern haben noch nicht einmal gelächelt, so sehr wich ihr eigenes Gefühl von meinem ab.

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Zitat von Annika im Beitrag #2

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Wir sollten aufhören so zu tun, als hätten Eltern immer auf unserer Seite gestanden, und als hätten sie uns helfen wollen. Die Gesellschaft hat erwartet, dass sie uns zur Therapie schicken, also haben sie es getan (meine wollten eigentlich gar nicht, und auf meine Frage nach dem „Warum nicht?“ erhielt ich auch keine Antwort). Unser Sprechdefizit hat ihnen selbst gedient. So erlebe ich es zumindest. Auch heute noch. Sie könnten inzwischen mit mir sprechen. Aber sie wollen nicht.

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Hallo @Chiara,

dein Artikel hat mir gestern Abend die Tränen in die Augen getrieben. Es passt zum Zeitgeist der 60'er/70'er Jahre, und ich kann dich gut verstehen, sehr gut sogar.
Und ich hoffe, dass sehr viele Eltern, deren Kinder angefangen haben zu stottern oder bereits seit längerem stottern, auch dies lesen, damit sie erkennen, wie die Tabuisierung auf das betroffene Kind wirkt - denn leider gibt es solche Verhaltensweisen immer noch. Das hören wir immer wieder, wenn wir z.B. am Stand der Selbsthilfe auf der DIDACTA oder anderen Öffentlichkeitsveranstaltungen mit Menschen ins Gespräch kommen.
Es sind nicht mehr unbedingt die Experten, die sagen, "bloß dem Kind gegenüber nichts sagen", aber es ist die Nachbarin, die Oma, die beste Freundin etc. Und dann zieht es sich durch das Leben des Kindes...

Zitat von Chiara im Beitrag #4

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So wie ich spreche, ist es für euch nicht in Ordnung, oder? Warum redet IHR mit mir nicht darüber?
Die ganze Verwandtschaft, die ganze Nachbarschaft, alle reden darüber…
Es ist euch peinlich, nicht wahr? Ich bin peinlich…

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Zitat von Chiara im Beitrag #4

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Ich hatte eine Freundin, sie hatte rote Haare.
Irgendwann fragte mich meine Mutter: Ihr lacht die B. doch nicht etwa aus wegen ihrer Haarfarbe?
Warum fragst du nicht MICH, ob ICH ausgelacht werde? STOTTERLIESE…

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Zitat

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Und ich erinnere mich auch, dass ich meinem Vater unter ganz üblen Gefühlen auf dem Rückweg zu unserer Pension erzählt habe, dass das andere Mädchen ganz furchtbar gestottert hat.
Und mein Vater begann mit seinen üblichen, wohl gemeinten Ratschlägen. Dass man so etwas nicht ansprechen sollte, dass man darüber nicht lachen sollte, dass das Mädchen da ja nichts für könne...
Wem sagte er das?

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Zitat von Chiara im Beitrag #4

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Mein Sohn stotterte bis zu seinem 10. Lebensjahr stark. Meine Eltern versuchten anfangs, auch sein Sprechdefizit auszunutzen, die entstandenen Pausen dahingehend zu nutzen, um sich selbst noch mehr in Szene zu setzen. Was passierte?
Auf einmal war ich stark! Und voller Energie! Denn jetzt ging es um ihn. Ich musste nur einmal laut werden.
Ihr hört sofort auf, ihm dazwischen zu reden. Er hat ein Recht darauf, seine Sätze selbst zu beenden!
Erst dann haben sie etwas begriffen! Denn das kam nie mehr vor. Und sie redeten auch mir nicht mehr dazwischen.

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Zitat von Chiara im Beitrag #4

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Mein Vater ist seit fast 10 Jahren tot, meine Mutter lebt noch.
Aber ich habe nicht mehr das Bedürfnis, mit ihr über mein Stottern zu sprechen. Ich will und werde es nicht tun. Umso mehr spreche ich jetzt mit Anderen darüber. Zu jeder passenden Gelegenheit. Und ich werde nicht mehr aufhören damit!

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