Stotter-Biographie von Ruhrfreund, in 2021 schon 55 Jahre alt, männlich

vorab
Die Biographie ist als lose Abfolge von Phasen in den verschiedenen Lebensabschnitten aufgeführt. Gelegentliche Abschweifungen in die Phsyche und in verkorkste familiäre Strukturen dienen der weiteren Erläuterung, sollen aber keinen Anlass für weitere Diskussionen bieten oder zu Rückfragen führen.

Ruhrfreund:
jüngstgeborenes Kind mit 2 älteren Schwestern, Mutter war „zeitgemäß“ Hausfrau, Vater ein vielbeschäftigter freiberuflicher Dienstleister.

Der Beginn um 1970 (Willy Brandt war Bundeskanzler)
Mit etwa 5 Jahren begann mein Stottern. Als frühestes Ereignis an was ich mich in erinnere war eine Kasperltheater-Aufführung bei uns zu Hause, wobei ich den Kasper machte und nachher gesagt wurde, von wem weis ich nicht mehr, „der Kasperle hat ein bischen gestottert.“
Als Grundschulkind war das Stottern für mich noch unbekümmert, es störte nur ein wenig, in der Schule konnte ich einfach nicht so gut Vorlesen oder Dinge aufsagen wie andere. Meine Klassenlehrerin telefonierte einmal mit meinen Eltern und sagte sinngemäß: „Der J muss unbedingt zum Gymnasium...“ , damit wollte die Lehrerin wohl meine Eltern davor bewahren mich für dumm zu erklären und auf eine Förderschule zu schicken, was wohl in der Zeit oft genug geschehen ist. Meine Eltern schickten mich aber sowieso zum Gymi, die beiden großen Schwestern waren ja auch schon da.
Das erste Ereignis dass ich etwas über Wahrnehmung und gefühlte Abwertung durch andere erfuhr war folgendes: In einem Schreibwarenladen in unserer Nähe gab es neben Schulsachen auch Spielzeugautos von Matchbox und Siku, Plastikfiguren und Modellbausätze von Revell und Airfix. Da waren mein bester Freund R und ich oft gucken. Einmal sagte R zu mir, die Ladeninhaber kannten seine Eltern irgendwie, „ der Freund vom R ist so komisch, der stottert.“
Den Grad der Symptomatik, die ich in der Grundschulzeit hatte weis ich nicht mehr, in jedem Fall war meine Mutter stets die Triebfeder und ich wurde im 4. Schuljahr nach den Weihnachtsferien zu einem Sprachheilheim nach Bonn-Oberkassel geschickt, Dauer von 3 Monaten.

Familie Teil 1:
meine ältere Schwester B stotterte auch, Schwere der Symptomatik unbekannt. Sie war in den frühen 1970-ern in logopädischer Behandlung in der mit Steinzeitmethoden versucht wurde das Stottern auszutreiben oder besser Einstiegshilfen zu geben. Schwester B musste mit der Zunge irgendetwas machen, bis heute macht sie so komische Laute die sich wie der Beginn eines Lallen anhören. Sie stottert bis heute in leichter Symptomatik, hat aber keinen Nerv sich damit auseinanderzusetzen.
Über ihr und mein Stottern wurde in der Familie nie öffentlich gemeinsam gesprochen, genausowenig wie über andere familiäre Dinge nie gesprochen wurde. Dazu zählten noch 2 physische Dinge orthopädische Natur bei mir und meiner mittleren Schwester A und eine phsychischen Störung auch bei Schwester A. Schwester A hat zwar nicht gestottert, sie hatte etwas anderes gehabt und im Nachhinein von uns 3 Geschwistern die größte Arschkarte gezogen. (Nachfragen was sie hatte sind zwecklos, Schwester A ist 2011 mit 49 Jahren verstorben.)
Mein Vater, „ja der Papa hat als er jung war auch Schwierigkeiten mit dem Sprechen gehabt“, aber selbstverständlich wurde in unserer sprachlosen Familie nicht darüber gesprochen, das Vater ein Stotterer war und es bis heute ist.

ach ja und sonst…
ja, der kleine Bruder J war oft so krank, so blass und so dünn. Die großen Schwestern sollten ihn blos nicht immer so ärgern und in Ruhe lassen.

Bonn-Oberkassel 1975
Zu der Zeit gab es 2 Züge Jungens und im Nachbartrakt einen Zug Mädchen. Ich war bei den jüngeren Jungens zwischen 8 und 13 Jahre, mit 9 ½ zählte ich aber zu den jüngeren. Einige der größeren Jungens machten die kleineren schon auf die Entdeckungen oder Interessenslagen der aufkeimenden Pupertät aufmerksam.
Die Therapie wurde von 2 Chef-Phsychologen und Chef-Logopäden geleitet, therapiert wurde mit Entspannungsübungen, Atemübungen zur Mondscheinsonate „ der Bauch hebt sich und wir atmen ein und aus… „ . Ferner wurde unter Aufsicht gespielt, es wurde Schulunterricht gegeben und Aufgaben erledigt, gemalt, gebastelt und in der Turnhalle Sport gemacht. Es fanden Gespräche in Kleingruppen statt, dabei erzählten wir wohl auch irgendwie von zu Hause.
Es gab einen „Elternsprechtag“, später erfuhr ich das meine Mutter ziemlich fertig war, als ihr von den Chef-Phsychologen gesagt wurde sie würde mich zu sehr unterdrücken oder unter ihrer Fuchtel halten.
Im Nachhinein maybe, ein Teil Wahrheit ist da leider dran gewesen, meine Mutter war ungeduldig, sprach relativ schnell und relativ viel, im Gegensatz zu meinem Vater. Verbal dominant. Meine Schwestern haben mich nie gedrängt, gehänselt oder ausgegrenzt, nie !
Die Ausgrenzung durch den Typen, den du immer im Spiegel siehst, kam erst später.

Redaktioneller Einschub:
Eltern haben keine Schuld am Stottern ihrer Kinder – aber ungesunde Familienstrukturen und Verhaltensmuster tragen zur Verfestigung und Verschlimmerung bei. Dies ist hier im Forum und in der Literatur schon ausgiebig ausgebreitet.
Einen Rat an die Eltern die jüngere Kinder haben die stottern würde ich gerne geben, in einem anderen thread dieses Forums. Sollten jüngere Eltern meine Geschichte hier lesen, dann bleibt einfach locker und macht nur nicht den gröbsten Mist wie die Generationen vor euch. Auch wenn so alte Knacker wie ich ein bischen merkwürdig oder „phsycho“ erscheinen, braucht ihr keine Berührungsängste zu haben. Unsere Tochter ist 30 also vom Alter her sehr nahe an euch dran !
In meinem Leben was ich jetzt als gutes Leben bezeichnen würde, habe ich vieles gemacht und wenig weggelassen.

Nach Bonn-Oberkassel
kam ich im Sommer 1975 auf das Gymnasium. In der 5. und 6. Klasse war ich fast symptomfrei, unbeschwert auch im Englischunterricht unterwegs, bis ich nach 1 ½ Jahren, so mit 11 ½ wieder anfing zu stottern. Meine Mutter musste ins Krankenhaus was mich wohl etwas verstört hatte und es setzte die Vorpubertät ein, ab da ging es erst richtig los, mit dem Stottern …

Fortsetzung folgt.

... Fortsetzung folgt.

Ja, jetzt ja, dann begann meine Jugendzeit...
oder wie diese Zeit genannt wird, für viele süß und bitter zugleich.
Gleich mit 11 bis 12 merkte ich, dass das Stottern etwas ausmachte, mit meinem Leben. Es bedeutete, dass ich mich verbal nicht wehren konnte. Dass ich im Schulunterricht in mündlicher Beteiligung eine Sonderrolle hatte. Meine Mitschüler waren stets fair, ich wurde nie gehänselt oder verlacht, heute weis ich auch, dass viele mich gemocht und geschätzt haben, auch einige Mädchen, die ich heute noch gelegentlich beim Einkaufen treffe und wir froh sind uns zu sehen.
Aber trotzdem, irgendwie fühlte ich mich so, so ganz bist du nicht dabei. Nicht als vollwertig anerkannt. Als minderwertig. Es gibt verbotenene Räume in denen hinter verschlossenen Türen die Post abgeht, ja, das Jungsein, rockige Musik (zum Teil war das eine wirkliche Scheiß-Musik in den 1970-ern, aber nicht nur), das Entdecken, Ertasten und Erforschen der eigenen Geschlechtlichkeit und die des gegenüber.
Und vor dieser verschlossenen Tür steht ein Wächter, der aufpasst und dir sagt: „Du armer kleiner Stotterer, dich wollen wir hier nicht und du kommst hier niemals hinein.“
Heute weis ich, dieser Wächter bin zum Teil ich selber gewesen.
Klar, in der 7. Klasse kamen einige Wiederholer zu uns „herunter“, da ich sowieso als im Spätsommer geborener zu den Jüngeren zählte, kamen schnell 2 Jahre Altersunterschied heraus. Und mit 12 bis 14 Jahren, das sind schon Welten, welche die Unterschiede ob du dazu gehörtst oder nicht noch rapide vergrößerten.
Ich suchte mir Kumpels als Verbündete, zwei wurden zu Mittelstufenzeit meine engeren Freunde, auch sozusagen Außenseiter die nicht zur Kernblase der Klasse oder Jahrgangstufe dazugehörten.
Klar, alles und nur alles war das Stottern. Es war nichts was mich täglich zur Verzweiflung trieb, ich machte eine Abfindung mit mir aus, dass es so war und nicht ohne weiteres behoben werden konnte, es war wie ein trüber Himmel der über meiner kleinen Welt lag.

Lesetrauma Nr.1, der Urknall:
In der 7. oder 8. Klasse hatten wir eine Vertretungsstunde bei unserer früheren Deutschlehrerin aus der Unterstufe, die versucht hatte, uns richtiges Deutsch beizubringen. In einer Vertretungsstunde, was machen wir da, wir lesen etwas.
„Ich möchten den J. hören !“ sagte die Lehrerin. Lange habe ich sie dafür gehasst, heute weis ich dass sie es nicht getan hatte um mich zu demütigen, sondern um mich zu fordern und zu fördern, gut gemeint aber mit einer Pädagogik die aus der Nachlesezeit nach 1945 entsprungen war. Es war eine Geschichte die auf einem Schiff spielte, welches Leck geschlagen hatte, die Seeleute mussten pumpen: „pucha, pumpen, pucha pumpen mussten sie“ , diese Phrase war lange Zeit für mich das Symbol einer Demütigung da ich vor versammelter Klasse mit gedrückter Stimme und blockierter Atmung kaum ein Wort nach dem anderen hervorbrachte und für den Leseabsatz lange Minuten brachte bevor ich erlöst wurde.
Das war der Urknall des absoluten Kontrollverlustes und der bisher größten Demütigung.
Später folgten noch viele andere, auch kleinere Einschläge und im weiteren Leben noch einige wenige im oberen Megatonnenbereich.

Weitere Episoden aus der schwierigen Zeit der Vor-, Haupt- und Nachpuberbertät lasse ich nun weg,
außer:
als ich mich entschied in der Schule nicht mehr vorzulesen...
nach weiteren Ereignissen mit Aufforderungen zum Vorlesen längerer Texte, eine viertel Seite konnte schon unendlich lang werden, entschied ich mich im Englischunterricht Klasse 9 nicht mehr vorzulesen. Nach Aufruf blieb ich einfach stumm und machte keine Anstalten anzufangen.

In der Oberstufe hatten wir in Geschichte Grundkurs ein Stundenprotokoll, was reihum ging und zu Beginn der Stunde vorgetragen wurde. Den Part des Vorlesen überlies ich meinem Sitznachbarn.

Als Resultat waren die Schulzeugnisse in den meisten mündlichen Fächern mit ausreichend garniert. Jede Versetzung durch einen Defizit gefährdet. Als ich 1984 das Abitur geschafft hatte, da bin ich mir heute sicher, haben sich die Lehrer auf der Konferenz geeinigt, den J lassen wir laufen. Wenn wir ihn nicht laufen lassen, tun wir ihm keinen Gefallen und uns auch nicht. Vielleicht wird irgendwas aus ihm. Ein 3-er Abitur mit Tendenz zur vier.

Meine Jugendzeit war eher so eine Aneinderkettung von Dingen die begonnen wurde und dann scheiterten. Also eine Aneinanderkettung von Versagens-Ereignisssen oder nicht genutzter Chancen (Das haben allerdings die meisten erlebt):
Ich wurde kein Klarinettist,
nach 2 anderen probierten Sportarten von denen ich schnell ablies, wurde ich auch kein Radprofi mit Berufung zur Teilnahme an der Tour de France, nicht einmal Amateurrennfahrer der AB-Klasse, blieb mein Leben dann nur eine Hobette (Hobbysportler), aber das mit 150.000 km oder mehr an Fahrstrecke.

und Mädchen?
und Dinge die mit Jungen und Mädchen und anderem was dazwischenliegt zu tun haben?
Das war etwas, was Lichtjahre entfernt erschien, außer dass in der Bretagne ein rotzfrecher französischer Knirps der deutschen Sprach bemächtigt meinte, dass seine Schwester mich süss finden würde, aber ob ich denn nicht homosexuell sei. Ich war so sehr mit der Frechheit des Knirpses beschäftigt und in meinem Stolz verletzt, dass ich gar nicht auf die Idee kam mir die Schwester anzuschauen. Eigentlich fand ich Französinnen sehr hübsch, so mit 17, heute finde ich Französinnen oft auch noch hübsch.
Das hatte jetzt nichts mit stottern zu tun, aber es gibt ein wenig mein damaliges Lebensgefühl wieder, in jeder Lebenslage nicht in erster Reihe zu stehen.

Was auch nicht mit Stottern zu tun hatte war eine physische, orthopädische Anomalie, die seit meiner Kindheit offensichtlich und bekannt war und deren Behebung erheblich über die spätere Lebensqualität entscheiden würde. Diese Anomalie schwebte in meiner früheren Jugend wie ein Damoklesschwert über mir und wurde 1981, als ich im 16. Lebensjahr war in einer großen Operation behoben. Wen es interessiert, darf sich mal den Anfang der langen OP-Narbe ansehen.

Ach doch, dass mit Mädchen oder nicht-Mädchen hatte schon mit Stottern zu tun, jedenfalls bei mir…
und… es würde noch einige Zeit dauern, bis sich die Tür zu dem verbotenen verschlossenen Raum öffnen würde, ich neugierig eintrat und im Schein der Lampe Erkundungen anzustellen. Der strenge Wächter hatte begriffen mal ein Auge zuzudrücken, schließlich war es auch an der Zeit.

ach fast vergessen… Stottern
Therapie nr.2 mit 14 Jahren, bei einer freundlichen älteren Dame im Auftrag des Mülheimer Gesundheitsamtes. Methode war ein Mischmasch aus Sprechtechnik einen weichen Ansatz zu finden. Keine Ahnung was das war, ich ging zwar gerne zu der Frau, aber es hat nichts genützt.
Zwischendurch versuchte meine Klarinettenlehrerin mit mir Sprechübungen zu mache, eine wirklich liebe, gute, feinfühlige Frau in der ich auch mit 13 verknallt war, aber es hat leider nichts genützt.
Dann Therapie nr.3 bei einem Logopäden in Essen-Kettwig, in einer hübschen schon damals teuren kleinen Stadtvilla, egal ob geerbt oder ergaunert. Der Inhaber kam als freundlicher gemütlicher Onkel daher, ich würde ihn heute als fett-feistes Bürschchen mit der Lizenz zum Gelddrucken betiteln, auf Kosten der Krankenkasse und Beitragzahler. Die behandelnde Dame war eine Studentin einer Fachhochschule, die für HiWi-Gehalt die Therapie machte. Ich musste Texte im Takt vorlesen und anderes Zeug. War damals wohl state of the Art, auf der dunklen Seite des Mondes.
Als sie dann sagte: „J, du stotterst weil du zu hause der kleine J sein willst,...“ ab da hatte ich keinen Bock mehr. Zwar ahnte ich, dass ein Körnchen Wahrheit daran war, dass mir das Stottern auch einen Schonraum darstellte und ich mich um Dinge herumdrücken konnte… ja, das war ein Deal der einfach da war, der nirgendwo geschrieben wurde, aber so war es...
aber wenigstens schrieben die Logopäden ein knallhartes Attest, mit dem ich bei der Untersuchung zur Wehrdiensttauglichkeit mit T4 als untauglich ausgemustert wurde. Und die große Narbe, erst 3 Jahre alt tat ein übriges. Als um 1989-1990 herum viele Jungs meines Jahrgangs gezogen werden sollten, kam die Deutsche Einheit und viele der Kumpels mit T1-T2-T3 kamen um den Wehrdienst herum.

ach, auch fast vergessen… Familie
zu Hause gab es in der Familienstruktur wenig neues aber zwischendurch, versuchten einige Verwandte etwas an mir herumzubiegen. Im Haus nebenan wohnten und wohnen immer noch eine Tante und Onkel mütterlicherseits. Nach der Therapie in Bonn-Oberkassel, ja der J kann sprechen wenn er sich Mühe gibt. „J, holt tief Luft, du kannst das. Gib dir Mühe.“ - strafender Blick - „J, du stotterst, du gibst dir keine Mühe! Du bist faul und undiszipliniert!“
Ein Onkel und Tante väterlicherseits, das verriet ein vertrauter Cousin von mir, meinten, „der J ist so komisch, wie der stottert und dass er stottert.“
Aufmerksame Leser erwarten jetzt den Abschnitt Familie Teil 2. Aber diesen Teil heben wir uns noch auf und lassen den finalen Silvester-Kracher erst ziemlich zum Schluss los. Ihr ahnt schon was da kommt und euer Ahnung gibt euch recht. Warten wir es ab.

Wir sind immer noch in meiner Jugendzeit bis Ende der Schulzeit, bis dahin entschied ich instinktiv…
das Klarinettenspiel sein zu lassen (war ja zu Beginn auch zu medizinischen Zwecken gedacht, von meiner Mutter)...
dafür lieber auf dem Rad zu sitzen und im Straßenverkehr zu fahren (gegen den Willen meiner Mutter, sie hatte stets Angst um ihren Jungen)...
zum Studium aus meiner Stadt weg in eine andere Stadt in der Provinz zu ziehen um von zu Hause weg zu sein, (was meine Eltern auch gut fanden und uns drei Kindern auch finanziell ermöglichten)…

wie es danach im Studium erging, Fortsetzung folgt

aber vorzeitige Aussöhnung oder „Freispruch“ für meine Mutter:
Aus dem bisher geschriebenen kommt meine Mutter nicht gut weg. Alle Eltern machen irgendeinen mehr oder weniger großen Mist. Es ist aber nie einer alleine sondern das gesamte Umfeld und die Biographien der einzelnen Akteure wirken mit.
Heute weis ich, dass das Verhalten meiner Mutter mit ihrem Erleben aus dem 2. Weltkrieg und weiterem ihrer Biographie zu tun hat. Zu anderen Zeiten und anderen Umständen wäre ihr Verhlaten ein anders gewesen. Alle Menschen auch wie wir sind Gefangene unserer Zeit.
Um diesen und andere Knoten zu lösen die sich im Leben nicht mehr lösen lassen, denke ich mir Szenerien wie aus einem Traum aus.
Eine gut Fee kommt zu mir und sagt: „Lieber J du hast einen Wunsch frei.“
„Ich wünsche mir meine Mutter zu sprechen, ich bin jetzt und heute und meine Mutter im gleichen Alter, auf Augenhöhe, ganz liebevoll aber auf Augenhöhe.“
Also sage ich zu meiner Mutter, dass alles gut ist, dass sie sich früher gar nicht so große Sorgen machen musste, dass ich trotz Stottern mit meinem Stottern und Leben gut zurechtkomme, im Beruf gut zurechtkomme und eine Partnerin und Kind habe. Und dass sie einen guten Teil dazu beigetragen hat, dass ich der Mensch bin der ich jetzt bin und darüber auch froh bin. Und dass ich sie im Leben vermisse, nicht ständig aber manchmal.
Monolog Ende, das genügt, Traum aus, liebe Fee, knips das Licht wieder an.
Warum dieser Traum und kein Gespräch? Meine Mutter verstarb in dem denkwürdigen Jahr 1989 als ich gerade noch 23 war, wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer und wenige Tage vor dem Finale der Tour der France, die Greg Lemond mit 8 Sekunden Vorsprung gewann.

immer noch, Fortsetzung folgt

... Fortsetzung von Part 2 ...

8 sekunden Differenz auf 4000 km Strecke , das ist ein Wimpernschlag

zurück zu 1984...
mit 19 ging ich dann in die kleine Großstadt in der nordrhein-westfälischen Provinz.
Aus gewisser Diskretion was meine Berufsausbildung angeht, weiche ich vom Erzählstil ab und versuche etwas Blog-artig oder nach Themen sortiert vorzugehen.

Meine Freunde und Bekannten, eher Studienkollegen und später WG-Mitbewohner mögen so gedacht haben, der J ist ein prima Kumpel, sehr ruhig, durch das Stottern etwas sonderbar. Erzählt zwar keine großen Romane, haut ab und zu gute Dinger raus, besonders nachdem er die leicht enthemmende Wirkung des Alkohols für sich entdeckt hatte. Nicht dass er sich immer die Kirsche zuknallt, nein er verträgt auch nicht so viel.
Früher, die Kumpels aus der Oberstufe, mit denen ich heute noch verbunden bin, galt das gleiche. Der J war kein Außenseiter, eher durch sein Stottern einfach anders. Gelegentlich musste er etwas protegiert werden.

Mädchen, oder Frauen, wie sie später dann genannt wurden…
eine ingenieurswissenschaftliche Fakultät war in den 1980-ern für männliche hormonell gesteuerte Studenten ein Notstandsgebiet.Von 270 Studenten war die Anzahl von Studentinnen kleiner-als-zehn. Engeren Kontakt zu Frauen bekam ich dann erst in der ersten gemischt-WG, in der besonders eine der beiden Mitbewohnerinnen mit der Erziehungsarbeit an mir weitermachte, wo zuvor meine Mutter und Schwestern aufgehört hatten.
... dazwischen, so 1984-1988 ergaben sich dann auch erstmalig Situationen vor dem geheimen verschlossenen Raum, bei denen der zuvor achtsame Wächter mal nicht aufpasste, schnarchend in der Ecke lag und die Tür erst leicht, dann auch mal sperrangelweit geöffnet war.

Freundin(nen)…
meine erste „richtige Beziehung“ hatte ich mit 26, die zwei Jahre lief und dann endete, wie so oft machte „sie“ Schluss.
Zuvor fanden die ersten körperliche Erfahrungen mit (gelogen) einer anderen Person statt und der Versuch der Eroberung einer nicht 100 pro erwiderten Liebe, das war so um die Zeit zwischen 1989 und 1990 herum...
Bis zur Rückkehr in meine Heimatstadt und ehemaligen Elternhaus ! hatte ich keine weitere Beziehung, erst etwas später.

das Studium?
Bei technischen Fachrichtungen sind Stotterer häufiger anzutreffen als in anderen Fakultäten. Tja, nur Mathe, Mechanik und Zeichnen, da ist nix mit Sprache und Ausdruck. Bis ich dann merkte dass es doch nicht so ist und die ersten mündlichen Ereignisse kamen. Viele männliche Stotterer glauben dass sie in technischen Berufen weniger reden müssen als z.B. Lehrer, ja das stimmt. Aber in meinem heutigen Beruf besteht 30% der Arbeit in Kommunikation, das meiste verbal per Telefon oder im Gespräch gegenüber.
Die ersten mündlichen Prüfungen im Hauptstudium gingen so olala, irgendwie hatte ich sie geschafft und mit gut durchschnittlichen Noten bestanden.

Dann kam das Lesetrauma Nr.2 zu Beginn 1988 (die freundliche Erinnerung an mich, dass ich ein schwerer Stotterer bin)
Für einen Seminarvortrag wurde gruppenweise ein technisches Objekt in der Theorie bearbeitet, wobei jeder Gruppenteilnehmer einen anderen Lösungsansatz untersuchen musste. Von meinem Part hatte ich von der Hälfte nicht die Bohne verstanden, was mir ziemlich zum Verhängnis wurde.
Der Seminarvortag wurde meine persönliche Katastrophe, zumal ich mein Stottern zuvor beim Professor und Mitarbeitern gut versteckt gehalten hatte.
Es ging quasi alles schief was schiefgehen konnte, die Folien waren das einzige, das den Vortag dann zu Ende führten. Schon der Beginn war schwer, ab der Stelle wo meine Erkenntnis aufhörte geriet ich quasi in einen Dauerblock und habe noch irgendwelche Wörter rausgedrückt. Betretene Stille, hilflose Blicke und Schweigen der Zuhörer.
Heute weis ich wie so etwas geht und welche Dinge für die Erfüllung eines guten Vortages alle nicht erfüllt gewesen sind.
Kurz nach dem verkorksten Seminarvortag, was dann auch unter den Kollegen die Runde machte, bestand ich eine mündliche Prüfung mit gut oder sehr gut. Der Prof schien die Noten zu würfeln, es gab sowohl Einsen und nicht-bestanden. Ein Kollege sagte dann zu mir: „ja, prima, ich fang auch an zu stottern!“ (um dann eine Eins zu bekommen).
Dieses Ereignis führte dann weiter dazu, dass ich die Motivation für einen zügigen Studienabschluss verlor und mit einem Kumpel ein Kleingewerbe eröffnete und damit viel Zeit verbrachte. Zuvor lag ich in der Geschwindigkeit des Studiums gut im Rennen.

Dann kam der Jahreswechsel 1988-1989, ich hatte mich von dem Trauma wieder erholt, da wurde zu Beginn 89 bei meiner Mutter die Diagnose gestellt. Die Krankheit nahm ein atemberaubendes Tempo auf, bis zum Tod meiner Mutter im Juli gleichen Jahres.

Familie Teil 2
Schwestern und Vater
zu Schwester B war das Verhältnis gut, sie zog 1988 weg, mit ihrem späteren Ehemann in das mediterrane Ausland.
Zu Schwester A war das Verhältnis schwieriger, sie hatte phsychisch den dicksten Knacks abgekriegt (was biografisch glasklar belegbar ist, hier aber nicht weiter erörtert wird) und machte bei uns zu Hause etwas die Aufpasserin unserer Mutter, der es zu dieser Zeit nicht gut ging und depressiv gewesen sein muss, und hielt mir zurecht vor, mich zu oft zu fein aus Dingen herauszuhalten, was auch zutraf.

1989
Während der Krankheit unserer Mutter verlagerten wir beide den Wohnsitz kurz nach Hause, da Mutter teilweise in der Klinik und zu Hause war, wo sie auch verstorben ist. In dieser Zeit muss ich als ungelernter Hilfspfleger wirklich alles gut und richtig gemacht haben, wodurch sich das Verhältnis zwischen Schwester A und mir entspannte und wir uns kennenlernte, d.h. Schwester A kannt mich schon sehr gut aber ich begann mich zum ersten mal im Leben für Schwester A zu interessieren. Eine langjährige Freundin sagte später als externe Beobachterin, ich hätte als Kind und Jugendlicher in meiner eigenen kleinen Welt gelebt.
Von da an war unsere geschwisterliche Beziehung gut, bis auf die späteren Unterbrechungen die teilweise durch die Inkompatibilität der Lebenspartner getrübt wurde.

Nach 1989 kam das 1990
die Trauerarbeit zum Verlust meiner Mutter schien für mich erledigt, was sie aber nicht war,
das Studium war voll im Sand steckengeblieben,
Stottern war nicht vorbei und es sah aus, als ob es in seiner Schwere niemals anders sein würde,
das Verhältnis zum Vater getrübt, dieser war seit einigen Jahren auf anderen Gleisen unterwegs und zeigte wenig Interesse an seinen Nachkommen,
J war unsterblich in eine teil-gebundene Frau verknallt (sie musste ja den Oberarzt heiraten),
und dann war noch Saddam Hussein im Sommer nach Kuwait einmarschiert und der 3. Weltkrieg stand kurz bevor…
Sommer und Spätsommer 1990 waren der größte mentale Tiefpunkt in meinem noch jüngeren Leben. Die Fußball-WM mit Lodda und Klinsi halfen auch nicht.

Therapie Nr.4…
wurde von langer Hand von Verwandten, meiner Schwester A und stiller Zustimmung meines Vaters eingestielt, denn Stottern war verboten und musste unbedingt verschwinden...
ich ging zu dem, dessen Namen man nicht nennt, dem früheren Opernsänger nach Amsterdam.
die nach ihm benannte Methode lassen wir hier mal weg, um unnütze Diskussionen auszusparen.
Nach üblichen anfänglichen Erfolg lies die Langzeitwirkung schnell nach, wie bei den meisten,
aber
dennoch hatte ich erstmals das Gefühl der Wiedererlangung von Kontrolle, ein tatsächlich wirksames Werkzeug in der Hand zu haben, mein Sprechen zu kontrollieren, was für mich zuvor überhaupt nicht denkbar war.
Klar, das Werkzeug ist eine grobschlächtige Brechstange. Ich machte für mich gewisse Anpassungen um es von der physischen Brachialgewalt mehr in Richtung einer mentalen Ebene zu verlagern.
(heute nenne ich die Methode „ein mentales Vehikel“, um durch den Sprechvorgang durchzufahren, fest in meinem umfangreichen Werkzeugkasten eingebaut aber selten benutzt, die Eindimensionalität und Kritikwürdigkeit der Methode sind unbestritten – das lassen wir jetzt)

In den weiteren Jahre bis zum Abschluss des Studium in 1995 ruckelte es gewaltig im Getriebe, mit kleineren mentalen Zwischenkrisen, bis ich dann doch endlich mit fast 30 mein Zeugnis als Diplohm-Intschenör abholen konnte.

Das Stottern war in seiner Schwere etwas abgefedert, aber dessen Überwindung unerreichbar. Dass ich wieder nach Hause in die gefährliche Umgebung meines Vaters gegangen war um die Koffer abzustellen, ist eine Mischung aus Bequemlichkeit und auch Feigheit gewesen, nicht die logische Zwangsläufigkeit wie es heute für Außenstehende so erscheint.
Seitdem ist das Leben wieder hier im Ruhrgebiet, in den langen Zwischenjahren hatte ich Zweifel ob es nicht der schwerste Fehler überhaupt war, aber heute bin ich darüber hinweg und kann sagen, dass es trotz der Irrwege doch gut geworden ist.
Vieles ist überwunden, heute. Ich glaube an den Begriff der „Fügung“, das Katastrophen und Irrwege mit dem Lauf der Dinge wieder in gute Fahrwasser geraten.

… und Stottern?
Als ich 1996 zurückkehrte war es die Baustelle mit unbekanntem Ausgang, heute ist es immer noch eine Baustelle, nur dass als letztes Gewerk mich der Maler fragt, ob die Tapete mit oder ohne Blümchen sein soll…

… und Stottern, wie war mein Stottern eigentlich?
als Kind habe ich keine Erinnerung an die Form meines Stottern,
im Attest für die Bundeswehr stand „toni und kloni“
als spät-Jugendlicher und Erwachsener war ich weniger ein Sto-sto----sto--sto als ein
-------------------------------------------------------------------- da kam lange Zeit gar nix heraus aus dem Typ ---------------------------------------, und dann z-z-z-z-zzz-zwei Alt (also wurde ich Alt-Trinker und kein P-PPPP-P-Pi-Pils-Trinker und ich bekam drei Alt anstatt zwei...)

Achja, und das geheimnisvolle Zimmer mit der verschlossenen Tür und dem besoffenen Wächter, die gibt es gar nicht, aber den Wächter finde ich klasse, ihn ausgedacht zu haben.
Stopp, die gab es schon in meinen Gedanken und vielleicht auch in euren Gedanken, aber sie waren irgendwann einfach verschwunden.

Redaktionelle Zwischenpause
Der Ruhrfreund ist nach den vielen Zeilen fix und foxi, der Schluss kommt erst nächste Woche, bitte um Geduld.

Im 4. Teil führe ich euch über meine Berufsausübung und der Selbsthilfe, die ich erst seit 2013 mache, bis nach heute. Und wieso ich den Kram hier überhaupt mache und Stunden vor der Kiste sitze. (es kommen das sehnsüchtig erwartete Familie Teil 3, Therapie Nr.5 und diverse „Freisprüche“ von anderen Akteuren.)

Fortsetzung von Part 3

…………...z-z-z-z-zzz-zwei Alt (also wurde ich Alt-Trinker und kein P-PPPP-P-Pi-Pils-Trinker und ich bekam drei Alt anstatt zwei…)
für wen waren die Bier denn eigentlich?
Die zwei bestellten Bier für meinen Nachbarn am Tresen und mich, Prost Kumpel.
die drei anderen Bier die dann aber kamen,
eins für mich
eins für den handzahm gewordenen Wächter der verschlossenen Tür des verbotenen Raumes
und das dritte für einen Verbündeten des Wächters, auch ein Aufpasser der schön darauf achtet, die von uns selbst gezogenen Grenzen nicht zu überschreiten, denn es galt zu verhindern vor allen und allem in die Freiheit entwischen, wegzulaufen, hinter dem Horizont zu verschwinden ohne sich noch einmal umzuschauen...
diesen mit dem Wächter verbündete Sausack, den wir alle sehr gut kennen, ihn aber nicht lieben aber auch nicht so richtig hassen können weil er uns schon sooo lange sooo vertraut ist, nämlich
das kleine Männchen im Ohr,
das immer zu dir sagt
du kannst das nicht
du hast das noch nie gekonnt
und du wirst es niemals können
das hast du schon oft bewiesen und so wird es immer sein, hä hä hähähä

dieses kleine Männchen wird besungen in dem Lied (ein musik-clip springt auf) der Gruppe „Rodgau Monotones“
mein Freund Harvey

wer steht immer neben mir - Mein Freund Harvey
wer sagt immer: "Das rat ich dir" - Mein Freund Harvey
Niemand außer mir kann ihn sehn
Wir werden wohl niemals auseinander gehn
naa nananaa
naa nananaa
naa nananaa naaa naaa

Dieses kleine Männchen im Ohr oder der besungene Freund Harvey ist der Killer unseres Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühl.
Und dieses kleine Männchen wiederum, hat noch ganz viele weitere Verbündete, nämlich die riesengroße Armee der alten Gespenster, die uns immer an frühere Ereignisse erinnern, uns in akuten Situationen anzutriggern, uns versuchen klein und schwach zu machen damit wir blos stottern, dem Stottern und den damit verbundenen negativen Gefühlen unterliegen.

Es gibt viele Arbeitsgebiete für uns Stotterer die ineinander greifen und uns täglich, stündlich fordern und erinnern bis wir Routine und Automatismen entwickeln,
wobei wir dann in der Gegenwart angekommen wären,
woran arbeite ich oder wie habe ich mein Selbstbewusstsein von früher Jugend über 1984 über 1989/1990 hinweg über 1995 hinweg über 2015 bis heute in 2021 verändert?

Nachrichten- und Systemtechniker und Regelungstechniker nennen so etwas eine positive Rückkopplung oder ?„autoprgressiver Prozess“?:
Anwendung von Sprechtechniken
führt zu positiv erlebten Sprech-erfahrungen
führt zu Erlangen und Steigern des Selbstwertgefühls
wodurch sich die Sicherheit in Sprechsituationen steigert
und die Sprechtechnik leichter, besser, routinierter und positiver entwickelt
und … und … dass durch die positive Rückkoppelung eine Verstärkung der gewünschten Attribute entsteht.
Wir lernen uns zu belohnen, uns selber gut zu behandeln, nachsichtig zu sein.
Morgan Freeman sagte in einem Film: „du bist der Captain deiner Seele“, uns nach großen und kleinen vermeintlichen „Niederlagen“ uns nicht selber zu demütigen und zu bestrafen.
Wir lernen uns und unser gegenüber in der Kommunikation kennen. Großes Arbeitsgebiet !
Wir lernen, dass Kommunikation nicht nur gesprochenen Worte sondern Augenkontakt, Lächeln, Körperkontakt, Mimik, Gestik und vieles mehr ist.
Dass es immer gut ist, eine Sprechsituation mit einem freundlichen Lächeln, einem Danke und auf wiedersehen oder -hören zu beenden. Dass es gut ist, wenn sich der Gesprächspartner freut dich wieder sehen und sprechen zu dürfen.

Tja, wie und was habe ich gemacht in den vergangenen Jahren, einem viertel-Jahrhundert in den Lebensbereichen Arbeit und Beruf, privates, Freizeit und Hobbys, Beziehungen, zum Lebenspartner, zur Familie, Eltern, Geschwister und Verwandte, Freunde und Bekannte, Alltagsleben im öffentlichen Raum, Einkauf, Kultur und Gastronomie, Urlaub, Reisen und Kontakte,
keine Ahnung wie genau ich was wann gemacht habe, es fand eine ständige Bewegung ab, nicht in einer Richtung nach aufwärts sondern auch ein auf und ab oder im Börsendeutsch eine Seitwärtsbewegung, nicht kontinuierlich, eher in Stufen oder kleineren Zäsuren und auch langsamen fast unmerklichen Verbesserungen, kaum wahrzunehmen wie sanfte Anstiege einer Straße die einem auf dem Rad die Beine schmerzen lassen, die in der Landschaft gar nicht zu erkennen sind.

Zwischenstopp, Einschub, wie ging es dem J eigentlich so seelisch oder gefühlsmäßig bezogen auf das Stottern. Auf das Stottern bezogen ohne den zusätzlichen Gebiete des größer- und erwachsen werdens, schulischer Erfolg oder Misserfolg, Herzschmerz, Verluste von Personen usw.
in der Kindheit
Stottern war mir bewusst, anfangs unbekümmert,
in der Jugend kam die gefühlte eigene Wertung meiner Person und die Wertung durch andere hinzu, das kleinmachen, Suche nach Schutzverbündeten usw.
Scham, Angst
und von späterer Jugend bis als jüngerer Erwachsener
Angst, Angst, Angst, ich war und bin (mit restlichen Spurenelementen) ein angstgesteuerter Stotterer.
Zwischendurch kam hinzu die „Wut“, etwa so „wieso ich?“ und „es muss doch irgendetwas geben...“, die Wutebene ebbte in den 20-ern irgendwann wieder ab, nach dem Opernsänger.

Das meiste gelernt, gearbeitet und mir widerfahren ist mir nach 1995, vor allem im Beruf und der Arbeitswelt. Dabei muss ich erwähnen, dass mein jetziger Beruf als Dienstleister in Sachen Bauplanung sich in keiner „Spaßbranche“ tummelt sondern es ist ein knallhartes Metier, das sich in einem Spannungsfeld zwischen Auftraggebern, weisungsbefugten Planerkollegen, Behörden und Prüfinstitutionen und ausführenden Instanzen ansiedelt.
Die Tätigkeit bietet viel Angriffsfläche. Und erfordert viel Arrangement und die berühmte Faust in der Tasche.
Gelernt habe und musste ich mich zu widersetzen gegen:
Anfeindungen durch Kollegen: „ der J darf nicht ans Telefon, das ist geschäftsschädigend,“
Herabsetzung durch andere, insbesondere breitbeinig aufgestellte Herren oder Männer aus dem letzten Jahrhundert, „nah, was hast du denn uns schönes mitgebracht“
Schnellsprecher und andere unangenehme Gesprächspartner, es gibt Leute, die wollen einfach nur recht haben, Leute, die wollen recht behalten, Leute, die wollen einen im Gespräch reinlegen.

Ich habe gelernt, mein Sprechen zu kontrollieren und mich bewusst zu entspannen,
was mir half war die in den Jahren zunehmende Sicherheit auf fachlicher Ebene,
Durchsetzung gegenüber eines sehr nahen Angehörigen (Vater),
Autosuggestion, die ich dort noch nicht so nannte,
z.B. wenn ich zu einem Außentermin fahre, führe ich im Auto ein Selbstgespräch über den zu erwartenden Inhalt des anstehenden Gesprächs, dann weiß ich dass nichts schiefgehen kann.
Bei „unangenehmen oder Fangfragen“ wird darauf verwiesen, dass ich die Frage zur Kenntnis nehme, das im Büro oder überhaupt prüfe und ich mich dann melde.
Mittlerweile fühle ich mich gelegentlich fast schon abgezockt,
Angriffe abprallen zu lassen,
andere mit unangenehmen Dingen zu konfrontieren,
gelegentlich den Erklär-Bär raushängen zu lassen, dem alle gebannt zuhören.
Ich bemerkte, dass das Gesprächspartner es schätzen, was ich sage, nicht wie ich es sage, dass das Stottern für Menschen, die mich kennen, kein Merkmal bedeutet wie es für mich selber bedeutet hat.
Und das Männchen im Ohr, der Freund Harvey?
der hat verloren.
der hat schon so oft verloren
und er wird immer verlieren
und nie mehr gewinnen.
Und die alten Gespenster, ja, manchmal weht dieser kalte Hauch und sie versuchen sich anzuschleichen. Dann erkenn ich sie rechtzeitig und jage sie fort. Geht schön brav in euren kalten Keller, dann lass ich euch vielleicht nochmal kurz raus.

Liebe geduldige Leser*innen, in den letzten Absätzen erzählte ich was wie gewesen ist, aber was ich wann wie genau gemacht habe das weis ich nicht mehr und möchte auch keine chronologische Abfolge wie in der ersten drei Teilen machen,
außer dass ich weiter gelernt habe,
Selbsterkenntnis, ohne die das geschriebene nicht möglich gewesen wäre,
dass das Lesetrauma überwunden war, ich hatte gelernt, mit der etwas rundgeschliffenen und aufgeweichten Brechstange des Opernsängers in den Redefluss zu gelangen um einen fest geschriebenen Text vorzutragen,
dass sogar gewisse „brenzlige“ Situationen bestanden wurden, ich bemerkte etwas, was ich mir zunächst noch nicht erklären konnte,
dass der 2-seitige Vortrag des von mir verfassten Briefes an meine verstorbene Schwester A und ihrer damals noch jüngeren Tochter auf der Trauerfeier in der Friedhofskapelle aus eher redaktionellen und technischen Gründen nicht 100 pro rüberkam (Schrift zu klein, scheiß-Akustik und elektro-Akustik).
In 2013 als ich 48 Jahre ! alt war, schien meine neue kleine Welt in Ordnung und ich hätte bis zu meinem Lebensende weiter so durchgemacht,
aber
ich bemerkte dass das kleiner Auf- und Ab mit dem Sprechen und Stottern stimmungs- und streßabhängig war, gewisse Techniken und mentalen Tricks mal funktionierten und mal nicht.
Ich hatte mich die Jahre über nie mit Stottern an für sich in Theorie und moderner Methodik der Behandlungen beschäftigt.
Auf wdr-online las ich über den Stotterer-Bundeskongress BuKo in Kassel? . Dann fand ich die Selbsthilfegruppe in Düsseldorf, zu meinem Wohnort im westlichen Ruhrgebiet nächstgelegen.
Da ging ich dann hin, mit einer gewissen Nervosität was und wen ich dort zu erwarten hatte, nicht etwa: „Na, du bist ja schon ein großer Junger, wieso kommst denn du Versager hier zu uns, setzt dich mal schön in dem Kreis in die Mitte, der Stuhl ist extra für dich reserviert, weil wir wussten dass du kommst.“ Natürlich dachte ich nicht, dass es so sein würde, aber „man“ weis ja nie, die alten Gespenster ließen grüßen.
In der SHG lernte ich zum ersten mal seit sehr langer Zeit andere Stotterer auf Augenhöhe kennen und bemerkte, dass ich so gesehen noch ganz gut wegbekommen bin.
Es änderten sich 2 Dinge,
1. nach den ersten Besuchen stotterte ich mehr wie vorher, aber ich merkte das es mir weniger ausmachte wie vorher, da Stottern über den Besuch der SHG „normaler“ wurde.
2. beim zweiten Besuch teilte mir ein 17-jähriger Teilnehmer mit „du zerreibst dich an den Konsonanten“.
Ja, was ich machte, ich sprach mit viel „Kraft und Druck“. Manchmal, abends nach der Arbeit, war ich vom reden physisch platt, müde, geanstrengt.
Für den damals 17-jährigen bin ich sehr dankbar mich auf eine andere Schiene gestubbst zu haben, dieser junge Mann ist mittlerweile erwachsen geworden und nimmt noch regelmäßig an der SHG teil, unser immer gut gelaunter Sunnyboy.
Zu Beginn 2015 nahm ich an einem BVSS-Seminar teil, „Naturmethode“ mit einem vielen hier Bekannten aus dem Münsterland. Beginn war Freitag abend, Ende Sonntag mittag.
(Ich weis, es gibt in der Stotterer-Szene gewisse Kreise die die Benennung von Therapiearten oder „Schulen“ ablehnen oder in „richtig oder falsch“ werten. Hier erzähle ich einfach was mir passiert ist.)
Nach anfänglichem Befremden, am Samstag nachmittag hat es bei mir während einer Gruppenübung „klick“ gemacht. Den restlichen Teil des Samstag bis Sonntag bin ich nur von irgendeiner mir unbekannten (mentalen) Droge durch das Seminar geschwebt.
Wieder zu Hause angekommen erschien ich meiner Partnerin wie ausgewechselt. Ich war tiefenentspannt wie nach drei Wochen Urlaub.
Zwar lies die Wirkung dieser mentalen Wunderdroge auch wieder nach, die Technik oder besser die Idee musste eingeübt und im Alltag in konkreten Sprechsituationen eingesetzt werden.
Ohne weiter auf die Naturmethode einzugehen, mir helfen 2 Dinge, die Leichtigkeit und Wegnahme von Kraft und Gewalt, die Wahrnehmung der eigenen Stimme, was mittlerweile oder neurologisch nachgewiesen ist und durch bekannte Alltagserfahrungen bestätigt werden kann.
Heute bin ich für mich überzeugt, die Bausteine, die für mich gut sind gefunden zu haben. Zwar stottere ich weiterhin, aber ich kann jederzeit zwischen meinem „Quasselmodus“ und dem „Control-Modus“ umschalten.
Ich will auch mal quasseln und schaffe es mittlerweile Leuten einen Knopp an die Backe zu labern, nicht nur zu tippen.
Mittlerweile geht es mir sehr gut. Es hat lange gedauert und war ein langer Weg.
Die Selbstsicherheit und das gewachsene Selbstbewusstsein, und eine zunehmende „Gelassenheit“, der autoprogressive Prozess.
aber
fertig ist es nie und noch lange nicht, wäre das nicht langweilig?
Ich glaube zu meinen, dass Leute das Stottern an mir interessant finden, soll ich das etwa vollständig einebnen? Kann ich nicht und will ich nicht und muss ich nicht, basta.

Freisprüche oder Familie Teil 3:
an meinen Onkel mütterlicherseits, der mir früher nie in die Augen schauen konnte, der als Kind gestottert hat, wiel lange weis ich nicht weil es nie, nie, erzählt wurde,
an meine Tante väterlicherseits, die gestottert hat und mein Vater als großer Bruder sie beschützt hatte, dies aber nie, nie erzählt wurde,
an meinen Vater der als Kind und Jugendlicher gestottert hat, was nie nie erzählt wurde, der aber bis heute keinen ausgeprägten Redefluss besitzt und einen heiteren Roman erzählt, eher so aneinandergereihte bedachte Sätze, was mir sehr lange nie auffiel weil es so normal und vertraut war.
Freisprüche weil alle in ihrer Haut steckten, sich dem gegenüber hilflos gefühlt haben mussten oder auch vielleicht von einer höheren Instanz, meiner Mutter, beordert wurden nicht darüber zu sprechen, was aber eine wage Vermutung ist.
Vater hat einiges unterlassen und falsch gemacht wie alle Eltern, Väter und Mütter.
Eine Auseinandersetzung in voller Breitseite hätte zu einem vollständigen Bruch geführt da er in seiner Persönlichkeit so gestrickt ist.
Jetzt nähert er sich den 90, hat seine zweite Dosis Covid-Vaccin bekommen und wir sind froh darum. Ich kann ihm sagen, ja Vater, ich weis alles und alles ist gut.

Was ich noch tun werde
in der Stotterer Selbsthilfe mitzuwirken um jungen Leuten zu zeigen, dass und wie ein Leben mit Stottern lebbar und lebenswert ist,
nicht-Stotterern uns Stotterer sichtbar zu machen
meine frühere Freundin aus meinen 20-ern nach 20 Jahren noch mal anzurufen um ihr zu sagen dass sie ein wichtiger Teil meines Lebens war und alles gut ist,
allen anderen auch zu sagen das alles gut ist
und
DASS wir uns um ZUKUNFTSFRAGEN kümmern!

In einer Nachlese erzähle ich euch warum ich das mache und was es ist was mich treibt. Hier ist schon einiges verraten.

Ich habe fertig mit dem Text, Ruhrfreund

Sehr toll geschrieben. LG Roland

… fertig ist es nie und noch lange nicht, wäre das nicht langweilig? …
… von wegen fertig, jetzt fangen wir erst richtig an ...

was sich noch verändert hat oder in mein Bewusstsein gerückt ist:
Desensibilisierung als großes Arbeitsgebiet !
Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit !
Plastizität des Gehirns ist ein Thema wovon ich ganz fest überzeugt bin. Platt ausgedrückt programmieren wir unsere Nervenbahnen um und platter ausgedrückt oder leichter gesagt als getan, fertig ist die Laube. Es ist niemals zu spät mit irgendetwas anzufangen, neu zu erlernen, kleine Veränderungen vorzunehmen, niemals zu spät. Auf dem Saxophon als Cousin-Instrument der einst verhassten Klarinette funktionieren Tonfolgen infolge der limitierten Fingerakrobatik erst überhaupt nicht und auf einmal gehen die dann doch einfach so. Das gleiche gilt für andere Tätigkeiten, an denen unser Supercomputer im Kopf immer dran beteiligt ist. Einfach mal etwas anders machen, profane Dinge wie das Ablegen der Zahnbürste mit ungewohnter nie da gewesener Akuratesse oder etwas neues zu beginnen, eine Sprache, ein Instrument, eine Sportart oder die Art der Pflege meiner sozialen Beziehungen.

Freisprüche, warum gibt es die vielen Freisprüche wobei keine Anklageschrift verlesen wurde?
Die Anklage könnte früher so gelautet haben, dass ihr mich mit meinem Stottern ganz allein gelassen habt. Wie konnte ich denn als kleiner Junge, als blass-pickeligen Teenie-Bopper um 1980 herum, als junger Erwachsener etwas anderes denken, als dass ich das Stottern nur alleine beheben konnte durch komische Übungen und Aufenthalt in einem Heim und wenn es nicht weg ging, ich etwas nicht richtig gemacht habe oder zu faul oder ein Versager gewesen bin. Dass ich ganz alleine Schuld hatte, auch, euch einen solchen Kummer bereitet zu haben. Dass ich in der Verwandschaft von anderen verschwiegenen Stotterern umgeben, im genetischen Kreuzfeuer von beiden elterlichen Teilen gelegen habe, das habt ihr mir nie gesagt. Dass alles, was in meinem jungen Leben durch unüberwindbar erscheinende Hindernisse versperrt war, das waren nur das Stottern und ich und ihr mir nie gesagt, dass es nicht so ist. Stottern war zwar nicht verboten aber doch unerwünscht und es musste um jeden Preis verschwinden, denn es war genauso lebenswichtig wie die OP am ersten April 1981.

Nachlese und making-of zu meiner Stotterer-Biographie

was ich nicht erreichen will
Zugzwang, durch die Niederschrift der sehr komprimierten Biographie soll sich niemand dazu genötigt sehen dem nachzutun. Es bedeutete für mich eine gewisse Überwindung und auch eine Abschätzung von Risiken oder Nachteilen, weil es ein leichtes ist, durch rückschreitende Suchfunktionen im Netz direkt an meine reale Identität zu gelangen. Die Biographie wurde auch erst durch eine gewisse Distanz zu den Dingen in der tiefen und mittleren Vergangenheit möglich, vor noch 10 Jahren hätte ich dies nicht in dieser Form getan.

was ich erreichen will
erkennt ihr Dinge wieder? Zwar ist jeder Jeck ein anderer, jedes Stottern ein anderes und jede Biographie eine andere aber da bin ich mir sicher, gleiches oder ähnliches oder Parallelen werdet ihr auch erlebt haben oder wieder erkennen.
und wen ich besonders erreichen will
vor allem die jüngeren, ich sag mal von Anfang 20 bis U35, von denen ich einige über die SHG kenne, die in der ähnlichen Lebensphase mit Ende der Berufsausbildung und Beginn oder Veränderungen im Berufsleben stehen. Häufig werden in diesem Lebensabschnitt auch die Beziehungen fürs Leben oder Lebensabschnitte aufgenommen, geformt oder verfestigt.

warum will ich diese Gruppe erreichen
damit ihr seht, keine Ahnung wie ihr mich jetzt seht, dass es bei mir früher alles ziemlich wackelig gewesen ist und ich mit ähnlichen Dingen beschäftigt gewesen bin wie ihr es seid. Um euch Mut zu machen, dass es Wege gibt, die ihr aber für euch selber finden müsst und finden werdet.
Und ihr braucht nicht bis Mitte 40 zu warten sondern ihr könnt sofort anfangen.

Ein höheres Ziel, ein Wichtig-tuer, ein Messias oder Influencer mit ganz vielen Followern? Oder nur viel gelesen, nein das will ich überhaupt nicht sein, aber ein höheres Ziel habe ich trotzdem, ja, dass uns Stotterern ein selbstbestimmtes freieres Leben ermöglicht wird und wir unsere Qualitäten, Persönlichkeiten, Fähigkeiten entfalten können, denn wie so oft bleiben Stotterer hinter ihren Möglichkeiten zurück.

und

ZUKUNFTSFRAGEN oder DETOX the world – entgifte die Welt, befreie die Menschen, dich, uns und viele andere
das ist nicht zu verwechseln mit gewissen wirtschaftlich gesteuerten Life-Style-Kampagnen im Netz sondern es ist für mich ein „Arbeitstitel“ die Welt zu einem besseren Platz für viele oder alle Menschen zu machen, in sozial- und sozialökonomischer, humaner, politischer, ökologischer Hinsicht.
Tue ich das weil ich ein Träumer, ein Weltverbesserer oder ein „Gutmensch“ bin oder sein will.
Nein, mein sachlicher von Vernunft und Gefühl gesteuerter gesunder Menschenverstand sagt mir dass wir gar keine andere Wahl haben als uns den Herausforderungen zu stellen und ob aktiv oder zumindest passiv mitzuwirken.
Ansonsten fliegt uns hier der ganze Laden um die Ohren und es fällt uns alles vor die Füße, damit meine ich nicht den Einschlag eines Asteroiden oder den eines nuklearen Gefechtskopfes woher auch immer.

Drei Bespiele von Arbeitsfeldern, die nicht immer so formuliert in den Medien dargestellt sind aber bei mir die bekannte „Hutschnur zum Platzen“ bringen

Gleichberechtigung, Gender, Sexismus, sexualisierte Gewalt und Homophobie
Genderdebatten hören auf oder verlieren ihre Notwendigkeit
wenn gut ausgebildete Juristinnen auch in Großkanzleien die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten wie ihre männlichen Kollegen haben und deshalb keinen großen Bogen mehr darum machen,
wenn eine Frau Chefärztin der Herzchirurgie einer Klinik ist und nichts mehr erklärt werden muss
wenn eine Frau Kommandantin der Marsmission ist und nichts mehr erklärt werden muss
wenn eine Frau nicht mehr von ihrem Mann oder anderen Männern so aus Gewohnheit misbraucht, vermöbelt oder getötet wird, auch in der Bundesrepublik Deutschland und irgendwo sonst *
wenn Mädchen nicht mehr genital verstümmelt werden, auch in der Bundesrepublik Deutschland und irgendwo sonst *
wenn nicht nur Bundesminister sondern auch Fußballprofis und alle anderen einfach schwul sein dürfen, in der Bundesrepublik Deutschland und irgendwo sonst *
wenn Kamala Harris Präsidentin der vereinigten Staaten von Amerika wird und nichts mehr erklärt werden muss
*: bei diesen Beispielen muss auch in Vergangenheit, jetzt und in Zukunft nichts erklärt werden

Rassismus, Rassismus hört auf oder deren Debatten verlieren ihre Notwendigkeit
wenn Kamala Harris Präsidentin der vereinigten Staaten von Amerika wird und nichts mehr erklärt werden muss
wenn ein dunkelhäutiger oder ein Muslim neben mir sitzt oder steht, Arbeitskollege oder Weisungsbefugter, deutscher Beamter, Polizist oder Kanzler der Bundesrepublik Deutschland ist ohne das etwas erklärt werden muss
wenn ein Mensch mit hörbarem Akzent und Namen, der auf Migration schließen lässt auch mal die schöne Wohnung zur Miete bekommt
wenn ärmerer Länder durch reichere Länder, die im globalen Markt die Player mit den besseren Karten ausgestattet sind, nicht mehr als reine Rohstofflieferanten zur Befriedigung des Konsums misbraucht, sondern an der nachfolgenden Wertschöpfung beteiligt werden.

Klimawandel
ja die Zeit tickt, die 1,5° reißen wir sowieso, also müssen wir die 2° schaffen. Und die Menschheit muss das schaffen weil sie es kann oder weil wir es können. Es gibt viele Menschen und von Menschen organisierte Institutionen die nur im Großen denken und agieren, weil dies ihr wirtschaftliches Interessensgebiet ist, nur im Großen und nicht an das Zusammenwirken der unendlich vielen kleinen Bausteine des gesamten Gefüges. Nur an den einen großen Wurf, die einen Glauben an Allheilmittel propagieren welche als Insellösung reine, nicht zu Ende gedachte Blendgranaten sind, die fatale Ignoranz der kleinen Schritte, der deutschen 99,9% ige Perfektionismus.
Der Klimawandel, dessen Auswirkungen und dessen Abfederung beginnt auf 2 Quadratmetern Wildwiese und endet nicht bei zweihundertausend Quadratkilometern Waldgebiet, egal was ein hochbezahlter Möchtegern-Satiriker im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen „nur“ so sagt.

… was sollte das denn jetzt, was da oben gesagt wurde,
… warum das ganze hier im Stotterer-Forum und nicht bei den „gudd-Menschen“ du „gudd-Mensch“ du oder du „Weltverbesser“ du?
… Stottern, was hat das denn mit Stottern zu tun?
nicht mit Stottern aber mit Stotterern
Stotter-Debatten hören auf, wenn irgendwo einer steht der stottert und nichts mehr erklärt werden muss, hört sich irgenwie ähnlich an wie Gender, Rassismus und Klima...
Stotterer sind ständig mit ihrer Gegenwart und Zukunft beschäftigt.
Stotterer sind gewohnt an sich zu arbeiten, Fähigkeiten der Wahrnehmung im kleinen zu besitzen und die Wertigkeit kleiner Dinge und Veränderungen in kleinen Schritten zu würdigen.
Stotterer sind in dieser Hinsicht besonders und dadurch sind Stotterer besondere Botschafter.
Stotterer haben Qualitäten, die andere nicht haben, ganz schön hochnäsig, wa-äh (im ruhrdeutsch)?

(Botschafter, wieso Botschafter, Joe Biden ist doch Präsident. Am besten werden nur noch empathische Stotterer Präsident, oder Kamala Harris.)

Werden wir ein Teil der kritischen Masse critical mass der Vernünftigen, sonst diktieren in nicht so ferner Zeit die Unvernünftigen die weitere Zukunft aller.

Damit habe ich mich mit einem politischen Statement geoutet, als politischer Mensch, als neugieriger Mensch, meine Eltern haben uns zu moralischen, eigenständig denkenden Wesen erzogen, worüber ich ihnen sehr dankbar bin.

Das ist es, was mich treibt und weil ich viele von euch mag, die ich kenne.

Und als neulich der minderjährige Geflüchtete aus dem Orient neben mir auf dem Stuhl gesessen hat, vom Format her etwas kleiner bis mittelgroß, etwas blass und etwas dünn, so wie ich früher, nicht etwas stottert sondern stottert wie der Teufel, so wie ich früher und noch lange nicht fertig gebacken ist, so wie ich früher und als die zugeschaltete Übersetzerin uns auf deutsch erklärte was ihm und seiner Familie in seiner Heimat widerfahren war, da wusste ich wieder ganz genau warum ich das hier mache. Denn kurz davor hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt aus Frust die Brocken als SHG-Moderator hinzuschmeißen.

Hi J.,

Erstmal Dankeschön, dass du so tiefe Einblicke in dein Leben gibst und uns allen an deinem Lebensweg teilhaben lässt. :)
Ich habe deinen Text mit großer "Versunkenheit" darin gelesen und mich dabei an viele Ereignisse aus meiner eigenen Jugend melancholisch zurückerinnert.
Du beschreibst sehr treffend und mitreißend, wie schmerzvoll und emotional belastend die Jugend und das Erwachsenwerden mit dem Stottern ist. Besonders dann, wenn man noch kein geeignetes Hilfsmittel gefunden hat, um in Stottersituationen nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ähnliche bloßstellende Momente habe ich leider auch in meiner Laufbahn erlebt - besonders in meiner Schulzeit. Auch die Vorwürfe von schlechtinformierten Personen an dem Stottern selbst zu sein, musste ich mir gefallen lassen. Daher würde ich mir heute auch ein anderes öffentliches Bewusstsein für stotternde Menschen in unserer Gesellschaft wünschen, damit Menschen mit unserem Handicap sich nicht immer wieder dieser Vorverurteilung stellen müssen.
Ich freue mich, dass du deinen Weg im Leben gefunden hast und nun so gefestigt bist, dass du sogar auch anderen Personen dabei hilfst, mit dieser großen Herausforderung im Leben zurechtzukommen.
Auch für mich war dein Engagement als Initiator der SHG vor einigen Jahres ein wichtiges Signal in meinem Leben, dass mir gezeigt hat, dass ich mit dem Problem nicht alleine bin und dass es eine Anlaufstelle gibt, bei der ich Kontakt zu anderen Betroffenen haben kann. Daher danke ich dir ganz herzlich für deinen Einsatz und hoffe, dass wir uns, wenn sich die Lage wieder normalisiert hat, mal wieder persönlich sehen können. ;)

Viele schöne Grüße,
Maurice

Hallo j.,
interessant zu lesen, deine Geschichte. Die vielen Parallelen zu meiner Geschichte muss ich nicht aufzählen.

Deine Zeit in Oberkassel hat schöne Erinnerungen in mir wachgerufen. Ich war 1960 für 8 Monate dort und es war wohl die beste Zeit meines Lebens bis dahin. Endlich viele Freunde, mit denen ich täglich zusammen war. Endlich lauter Erwachsene, vor denen ich keine Angst haben musste. Durch mein Alter von 18 Jahren hatte ich auch guten Kontakt zu den Kindergärtnerinnen für die Kleinen. Der Sohn des Direktors war professioneller Violinist und hat mir ein paar Unterrichtsstunden gegeben. Was der mit meiner Schülergeige anstellen konnte, war schon verblüffend für mich. In der Nähe vor einem Steinbruch war ein Fußballplatz, auf dem wir oft gespielt haben. Die Zeit am Rhein, auf den Steinen sitzend und träumend. Einem Mädchen erklärt, wie Volumen und Gewicht bestimmen, wie tief ein Schiff einsinkt. Das anheimelnde Tuckern der Rheinschiffe, wenn ich nachts aufwachte. In der Metzgerei am Ort haben wir eine Zeit lang geräucherten Speck gekauft, bis die Metzgerin es der Heimleitung gesteckt hat und wir das nicht mehr durften. Du siehst, meine Erinnerungen kommen alle wieder hoch. Es gab 2 Therapeuten für Psychotherapie und einen für Logopädie. Meiner hieß Rudolf König, ob du den noch kanntest? Der andere hat mir dann eine Stelle bei einer Versicherung verschafft. Mein Stottern war sehr zurückgegangen, setzte aber dann in den darauf folgenden Jahren wieder verstärkt ein. Danke für deine Geschichten.

Mir fällt natürlich jetzt immer noch mehr ein aus der Zeit in Oberkassel. Es ist ja nun schon 60 Jahre her und ich weiß nicht wie das heute da ist.

Da waren noch das zusammen eingeübte und aufgeführte Theaterstück von Tschechow, die Nachtwanderung bei Vollmond in den umgebenden Bergen mit Spielen in uns unbekanten Waldstücken, wo es darum ging, sich unbemerkt an ein Ziel anzuschleichen (ich bin nicht sicher, ob Therapeuten heute noch so ein Risiko eingehen würden), die Sportübungen auf dem Heimgelände, wir Älteren durften auch das Heim verlassen und etwa in Bonn ins Kino gehen. Das wichtigste war der Kontakt mit so vielen mit dem gleichen Problem, das dadurch in den Hintergrund trat und der Kontakt zu den Therapeuten, an die ich gute Erinnrungen habe.

So wie das damals war, kann ich Oberkassel für Jugendliche sehr empfehlen. Für mich war es der erste Umbruch in meinem Leben, ich bin danach auch bald von zuhause ausgezogen.

Hallo Eberhard, zum Thema Oberkassel
interessante Geschichte, ich wusste gar nicht dass diese Institution dort schon so lange existierte seit den 1960-ern. Was die 1975 gemacht haben war zeitgemäß schon ok, ein mischmasch aus Entspannung und leichtem psycho, immerhin war ich 1 1/2 Jahre symptomfrei. Meine persönlichen Erinnerungen sind anders gelagert, ich war erst 9 und zählte zu den jüngeren dort. Die Therapeuten war eine gemischte Gruppe jüngerer Logopädinnen, ich denke so Anfang - Mitte 20, die kamen uns als Kinder natürlich sehr erwachsen vor. Dann gab es eine Therapeutin "im Keller" die in Kleingruppen Spieltherapie machte und auch massierte ! Die Leitung waren die "Chef"-Psychlogin Frau L und der Herr E. die nannte ich so mit "chef", wenn Phsychos irgendwo nicht mehr weiter wissen, immer die Mütter "schuld" haben und dann einen drüber gebraten kriegen. Muss meiner Mutter schon zugesetzt haben, wir sprachen zu Lebzeiten nie mehr darüber. Ich war von Dezember bis April dort, es gab 2 Besuchssonntage mit der Familie und tränenreichen Abschieden, bei allen. Was uns Kindern gut gefallen hatte waren das parkartige Gelände mit den wilden Büschen und das nahe Rheinufer. Einmal waren wir mit den Knien im Wasser und mussten unsere Sachen im Heizkeller trocknen. Ich entsinne mich an die alte Villa oder Sanatoriumsgebäude, die Schlafkammern unserer Jungengruppe waren oben unterm Dach, das Klo am Ende des Flures mit einer Funzel beleuchtet. Ich war nicht der einzige, der es nachts mal nicht schaffte und auf den Linol pisste, der sowieso schon gelb war. Neben der Villa waren so ein zwei Neubauten Flachdach so 60-er bis 70-er Jahre Architektur. in dem eingeschossigen waren die Küche und der Speiseraum. Ausflüge gab es auf den Drachenfels und auf einen benachbarten Ort, war dort das Schwimmbad? Wir fuhren in der Überland-Straßenbahn dorthin, die auch nach Bonn-Beuel fuhr. Als die Zeit zu Ende war, im April, wurde es wärmer, vorher waren ein trüber Winter und ein kühles Frühjahr. Von den Jungens dort habe ich nie mehr jemanden getroffen.
War denn Oberkassel die Keimzelle für die LVR wo Herr Prüß arbeitet?