Wie ich bereits öfter erwähnt habe, hat mich nie ein Thema emotional so tief getroffen wie Stottern. Keine Beleidigung, kein Schimpfwort traf mich je tiefer als "du stotterst" - obwohl es die reine Wahrheit war.
Und es war ein türkischer stotternder Junge, der mir beigebracht hat, meine Sichtweise zu ändern. Dem ich es letztendlich verdankt habe, dass sich mein Stottern so weit verbesserte, dass ich mir zutraute, Dolmetscherin und Übersetzerin zu werden.

Im Zuge meiner Berufstätigkeit habe ich im Sommer 2014 eine Delegation, bestehend aus Mitarbeiter*innen einer Behinderteneinrichtung aus der Türkei, in Dortmund bei ihrem Besuch bei Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland gedolmetscht.

Mir kam der Part zu, als der Leiter der Einrichtung sich und den gesamten Tätigkeitsbereich vorstellte.
Nachdem er von Werkstätten etc. berichtet hatte, sagte er: "Und wir haben auch eine sprachheilpädagogische Abteilung, in der wir in 2 Jahren 1200 Stotterer geheilt haben".
Als er diesen Satz aussprach, blieb mir fast die Spucke weg. Meine Kollegin (wir dolmetschen simultan immer zu zweit) wollte schon eingreifen, weil sie dachte, ich hätte nicht verstanden. Ich hatte sehr wohl verstanden, aber es fällt mir verdammt schwer, Dinge zu dolmetschen, die offensichtlich falsch oder gelogen sind.
Und so sprang ich über meinen Schatten und übersetzte: "Und wir haben auch... in der wir 1200 Stotterer geheilt haben - was ich zu bezweifeln wage."
Macht ja nichts, ich stand ja nicht unter Eid wie vor Gericht.

Mir ließ diese Aussage keine Ruhe, und so bat ich den Leiter der Einrichtung in der Mittagspause um ein persönliches Gespräch. Ich fragte ihn, wie denn so eine Stottertherapie abläuft, bei der die Stotterer alle gleich geheilt werden - denn wir könnten so etwas nicht!

Er sagte: "Also Stottern ist ja eine Angewohnheit..."
Ich unterbrach, und auch da schon sagte ich ganz offen: "Nein, das ist es nicht. Und ich weiß es auch ganz genau, weil ich selber stottere."

Er sah mich mit großen Augen an, weil ihm das paradox erschien, dass ich Dolmetscherin bin UND stottern sollte. Ich ließ mich gehen und zeigte einfach ganz natürlich Symptome. Das fällt mir nicht schwer, weil ich gerade nach einem anstrengenden Dolmetscheinsatz, bei dem ich hochkonzentriert bin, meistens mehr stottere, selbst wenn ich nur nach einem Glas Wasser frage.

Er fasste sich und fuhr fort: "Na ja, zumindest ist Stottern ein psychisches Problem!"
Ich unterbrach wieder und sagte, "auch das ist nicht richtig."

Er war verunsichert, ich aber erklärte ihm, dass den aktuellen Erkenntnissen zufolge Stottern ein neurophysiologisches Problem, also ausgehend von strukturellen Unterschieden im Gehirn ist und im Erwachsenenalter als nicht heilbar gilt.

Er erzählte von den Therapiemethoden, dass die Teilnehmer erst schweigen müssen und dann Atemübungen machen, silbenweise sprechen etc.
Er gab schließlich zu, dass er das alles auch nicht so genau wüsste, weil er nur der Leiter der Einrichtung ist und kein Therapeut...

Mich trafen diese Informationen sehr tief, weil ich mir vorstellte, wie furchtbar es sein muss, wenn einem jemand, der als Therapeut oder zumindest Lehrer gilt, einem erzählt, dass Stottern eine Angewohnheit bzw. ein psychisches Problem ist.
Mir ließ all das keine Ruhe und ich beschloss, der Sache nachzugehen...

Mir ließ die Sache also keine Ruhe, und so suchte ich eine Zeitlang ziemlich ziellos im Internet, vor allem aber auf Facebook nach dem Thema Stottern, fand allerdings zunächst nur die Seiten von Therapie-Einrichtungen, die ihre Heilungsmethoden anpriesen und keine Betroffenen selbst.

Bis ich dann im Juli 2015 in Kuşadası Urlaub machte und auf einer Tagestour nach Efes (Ephesus) folgendes Plakat an zahlreichen Wänden in der Öffentlichkeit prangen sah, genauso wie bei uns für "Ü 30 Party" geworben wird:
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Das Plakat verspricht die Heilung vom Stottern und sämtlichen anderen Sprechstörungen. Ich überlegte eine Weile und rief dann - mit dem Telefon eines Einheimischen - die angegebene Nummer an.
Ich hatte Glück, ich hatte den Meister persönlich an der Strippe und präsentierte ihm mein bestes Pseudo-Stottern, das ich je gezeigt habe.
Er belehrte mich sofort, dass dieses "Stottern", das ich zeigte, von einer falschen Atmung käme.
Aber es ist ja nicht so schlimm, weil es nur eine Angewohnheit und eine rein psychische Störung ist.
(Das kam mir doch irgendwie bekannt vor! )

Ich musste mich arg beherrschen, ihm nicht zu widersprechen, als er mir erklärte, dass meine Denk-Geschwindigkeit und meine Sprech-Geschwindigkeit nicht im Einklang seien, aber dass er mir das in einem Zeitraum von 10-15 Tagen "abgewöhnen" könnte.

Er wollte mich gleich zu einem Erstgespräch einladen, was ich dankend ablehnte, weil ich im Ausland lebte und schon übermorgen zurückreisen würde. Ich könnte mir jedoch vorstellen, ein andermal für seine Therapie zu ihm zu kommen.
Nach den Kosten für die Therapie befragt, sagte er, je nachdem, wie lange es tatsächlich dauere, so zwischen 1500-2500 TL, das war damals in etwa ein halbes bis ein Monatsgehalt in der Türkei.

Ich wollte genauer wissen, wer dieser "Therapeut" war und suchte bei YouTube nach Vorher- Nachher-Videos. Tatsächlich fand ich einige - ihr werdet diese Art Videos kennen - bei denen ein junger Mann anfangs kaum ein Wort herausbekommt und bald darauf optisch flüssig spricht. Vermutlich nach 10 Tagen oder so. Wie wir alle allerdings wissen, sind derartige "Heilungen" nicht von langer Dauer. Das weiß aber vermutlich ein türkischer Stotternder nicht, dem ja Heilung versprochen wird, und der eben diese Heilung per Video präsentiert bekommt.

Ich suchte weiter im Netz und traf auf einen Psychologen, der vor genau diesen "Scharlatanen" warnte, im selben Atemzug jedoch seine Therapie in den höchsten Tönen anpries.
Er erklärte, dass diese "Stotter-Zentren" von pensionierten Lehrern bis hin zu arbeitslosen Metzgern betrieben würden, die keine Ahnung von Stottern und von Therapien haben, dass diese Betroffenen anschließend seine Praxis stürmen würden und erst bei ihm die wahre Heilung fänden: Denn Stottern sei eine Angewohnheit und ein rein psychisches Problem".

Ich war mehr als geschockt. Hatte sein Video doch so gut angefangen. Aber ich ahnte schon, dass ich mich der Quelle der Scharlatanerie annäherte.
Ich suchte also über Facebook und fand tatsächlich die persönliche Seite dieses Psychologen. Ich schrieb ihn über Messenger an, dass ich sein Video gesehen hätte und vieles, was er dort erzählte, mit ihm teilte, dass ich als Stotternde allerdings entsetzt darüber sei, dass er behaupte, Stottern sei eine Angewohnheit und ein rein psychisches Problem.

Ich schickte den Beitrag ab und wartete. Ob er sich wohl bei mir melden würde?

Es dauerte. Es dauerte 2-3 Wochen, bis er mir tatsächlich antwortete.
Gleich pries er mir sein Buch "Stottern und die 5-Dimensionen-Therapie" an, das in 2 Jahren bereits in sechster Auflage erschienen sei.
Ich war geschockt. Eine solche Auflage erreicht bei uns allenfalls ein guter Roman. Aber ein Buch über Stottern? Was für ein Bedarf muss dieses Land haben!

Er schrieb mir, er sei so erfolgreich, dass er nun in den englisch-sprachigen Raum expandieren wollte und nach einem Übersetzer für sein Buch suchte.
Ich gestand, dass ich zwar Übersetzerin sei, allerdings nicht für Englisch, sondern für Deutsch. Aber wenn sein Buch so spektakulär wäre, könnte man es ja auch ins Deutsche übersetzen.
Er habe Glück, dass ich nicht nur ins Deutsche übersetzen könnte, sondern gleichzeitig als Stotterin mich sehr gut mit dem Thema auskannte.
Er legte mir nahe, sein Buch zu lesen und auf Übersetzbarkeit zu überprüfen.

Ich tat das. Ich bestellte es online bei einem Buchversand und erhielt es auch tatsächlich binnen weniger Tage. Es fiel genau in die Zeit, wo ich mit dem Zug nach Dessau zum Buko fuhr und viel Zeit zum Lesen hatte. Ich machte mir Notizen und markierte Stellen, die einfach mit dem, was seriöse Bücher bei uns schreiben, nicht vereinbar war.

Selbst wenn das Buch sich mehr an Stotternde wandte und ihnen vieles über die angesprochene 5-Dimensionen-Therapie erklärte, so war doch die eigentliche Intention, Patienten für die Therapie zu gewinnen.

Nur das letzte Kapitel richtete sich an Eltern stotternder Kinder, und da ließ mir folgender Satz die Haare zu Berge stehen: "Dass das Stottern chronisch wird, hängt vollkommen von der Haltung der Eltern und des Umfeldes ab."
Wie unverantwortlich, Eltern solch eine Last aufzubürden. Wo doch bei uns jeder Therapeut Eltern darüber aufklärt, dass es keine Zauberformel gegen Stottern gibt, und dass ein Kind auch weiter stottern kann, selbst wenn Eltern alles richtig machen.

Eines hat mich das Buch jedoch gelehrt: Endlich hatte ich den Ursprung all der "Angewohnheit" und "psychisches Problem"-Behauptungen gefunden.
Auch die Umkehr von Ursache und Wirkung, nämlich dass angeblich eine "falsche Atmung" zum Stottern führe, und dass Denken und Sprechen nicht im Einklang seien, stand schwarz auf Weiß in diesem Buch.

Als ich aus Dessau zurück war, sammelte ich meine Notizen und schrieb in einem ausführlichen Bericht zusammen, warum sein Buch für den deutschen Markt nicht geeignet sei. Unser Kontakt endete hier, nun blieb für mich nur noch die Aufgabe, einige der 9000 Patienten zu finden, die er angeblich in all den Jahren geheilt habe.
Denn ich habe ihm gegenüber kackfrech behauptet, dass er sie nur anzurufen brauche, um zu erfahren, dass sie eben NICHT geheilt seien.
Für ihn sicherlich kein Problem, dann haben sie sicher nicht ausreichend geübt. Seine These: wenn man seine Methode ein halbes Jahr konsequent anwendet, würde die "falsche Sprechgewohnheit" überschrieben werden.
Ich bin kein Therapeut, aber ausreichend informiert, dass diese Behauptung unhaltbar ist.

Wie nur konnte ich seine ehemaligen Patienten finden?

Hallo @Roland Pauli

Zitat von Roland Pauli im Beitrag #4

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Wie gut, dass du das in deine kompetente Hände genommen hast. Wie viele Betroffene habe ich erleben müssen, die mit ihren Eltern nicht über ihr Stottern sprechen konnten, weil die Eltern das aus Schuldgefühlen abgeblockt hatten.

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Ich suchte in den sozialen Medien nach dem Begriff "Stottern", und da ich über Facebook weiterhin nur Therapieeinrichtungen fand, schrieb ich mich in einem Forum ein, das "engellilerbiz" (wir Behinderten) hieß.

Ich suchte dort nach dem Suchbegriff "Stottern" und fand auch einige Beiträge und schrieb selbst einen hinein.
Dabei stieß ich auf eine Person, die nach Mitstreitern suchte und ihren Facebook-Kontakt dort hinterlassen hatte. Er nannte sich Kamil
Ich nahm über Facebook Kontakt zu ihm auf und stellte schnell fest, dass ich richtig war.

Kamil, der bei unserem ersten Hangout zugab, dass er eigentlich Ercan. heiße, verwies mich an die Facebook-Seite "Stotterer sein ist schön", die von einer Studentin und einem Studenten betrieben wurde. Als ich mich dort anmeldete, gab es gerade einmal gut 300 Mitglieder.

Ercan hatte eine Therapie nach Van Riper in der Türkei gemacht und war begeistert von der Phase der Desensibilisierung. Ercan kannte sich auf dem türkischen Therapie-Markt enorm gut aus, weil er vorher fast überall gewesen war und alle bekannten Therapie-Einrichtungen unter die Lupe genommen hatte.
Da er gut englisch konnte, hatte er viele ausländische Quellen begutachtet und war davon überzeugt, dass all die "Schluss mit Stottern in 15 Tagen"-Einrichtungen, die es in der Türkei an jeder Ecke hab, nur Seelenverkäufer waren.

Sein Ziel war es, mehr Mitstreiter für die Therapie nach Van Riper, aber auch für die Philosophie von McGuire zu finden und die Leute richtig zu beraten.
Damit hatten wir uns gesucht und gefunden.

Ich schrieb fast täglich einen längeren Artikel in der Facebook-Gruppe, durch den ich einen Perspektiv-Wechsel bewirken wollte. Nicht mehr "das Stottern muss weg!" (was unrealistisch ist), sondern "wie schließe ich mit dem Stottern Frieden, um es kontrollieren zu können".

Schnell merkte ich, dass meine Arbeit ermüdend und sinnlos war, da immer wieder neue Mitglieder in die Gruppe kamen und wir praktisch jeden Tag aufs Neue die Frage beantworten mussten: "Wie kriege ich dieses verdammte Stottern weg!", da all die mühselig erstellen Artikel schon nach einem Tag irgendwo im Nirvana verschwanden.

Ich sagte zu Ercan, ich brauche ein Forum wie das Forum der BVSS. Eine Webseite, auf die wir nach Herzenslust Artikel einstellen können, die dort für immer stehenbleiben, und die wir verlinken können, wenn immer und immer wieder dieselben Fragen kommen.

Und nun kommt die Praktikabilität der Türken, die ich so ungemein schätze: Ercan kannte einen Erdem, der sich mit Forums-Software auskennt. Es dauerte keine Woche, da hatte ich mein www.kekemelikforum.com.

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(Man achte in den Favoriten oben auf die Klickzahl unserer häufigst besuchten Artikel, und das seit genau 3 Jahren!)
Alle Artikel, die ich zuvor bei Facebook geschrieben hatte (ich hatte sie glücklicherweise auf meinem Rechner gespeichert), stellte ich nach und nach im Forum ein, und so kamen wir schon nach kurzer Zeit ganz nach vorne in den Suchmaschinen, wenn man auf google.com.tr nach dem Suchbegriff Stottern suchte.

Auf Ercans Wunsch begannen wir, in regelmäßigen Abständen Hangouts abzuhalten, die wir mehrere Tage im Voraus ankündigten und dann live bei YouTube streamten. Anfangs waren wir allein als Trio: Ercan, sein bester Freund Onur und ich.
Ercan und Onur hatten sich während einer der herkömmlichen türkischen Therapien kennengelernt, und nachdem Ercan viel später die Van-Riper-Therapie gemacht hatte, hatte er Onur in sein Wissen eingeweiht und beide verabredeten sich immer wieder dazu, pseudo-stotternd durch Istanbul zu ziehen.

Schon bei unserem dritten Hangout trauten sich die Leute aus der Gruppe allmählich, sich selbst mit einzuloggen, sodass bald die 10 Teilnehmer, auf die ein Gruppen-Hangout beschränkt ist, voll wurden und wir gleichzeitig durchgehend über 10 Zuschauer bei Youtube hatten.

Wir luden bekannte Persönlichkeiten oder Therapeut*innen zu unseren Hangouts ein, und in letzter Zeit ist es nicht ungewöhnlich, wenn wir die Teilnehmer bitten müssen, zu rotieren, weil viele draußen warten müssen, um sich einzuloggen, und die Zuschauerzahl live geht über 30.
Dadurch, dass die Hangouts bei YouTube weiter existieren, verzeichnen wir binnen weniger Tage mehrere hundert Klicks.

Unser Hangout zu Modifikationstechniken z.B. hat mittlerweile über 6.800 Klicks.

Immer wieder wurden wir in der Facebook-Gruppe nach dem Buch "Stottern und die 5 Dimensionen-Therapie" jenes Psychologen gefragt.
Woraus bestanden jene 5 Dimensionen? Das möchte ich euch nicht vorenthalten.

1. Dimension: Atem-Kontrolle
Zusammenfassend beschreibt er unter diesem Titel, dass Stotterer beim Atmen 3 fundamentale Fehler begingen: 1. sie halten nach dem Einatmen den Atem an, anstatt loszureden 2. sie atmen komplett aus und versuchen dann zu sprechen. 3. sie versuchen, während des Einatmens zu sprechen.
All dies sieht er als URSACHE für das Stottern an. Darüber hinaus wäre die Brustatmung schädlich, man müsste die Zwerchfell-Atmung üben.

2. Dimension: Gedanken-Kontrolle
Unter diesem Titel geht er auf die negativen Gedanken ein, die sich ein Stotterer macht. Kurzum, es geht um Gedanken, Verhalten und Gefühle und wie man diese in den Griff bekommt.

3. Dimension: Aussprache der Laute und Geschwindigkeitskontrolle
Unter diesem Titel beschreibt er, wie die Laute richtig artikuliert werden und zählt eine Reihe von Fehlern auf, die Stotternde angeblich begehen, nämlich anstatt die Lippen zu öffnen, sie zusammenzupressen. Außerdem hätten wissenschaftliche Studien ergeben, dass Stotternde schneller denken, als sie sprechen können.

4. Dimension: Emotionale Entleerung
Was er hiermit genau meint, habe ich bis heute nicht wirklich begriffen. Es geht aber definitiv nicht um die Bearbeitung negativer Gefühle gegenüber dem Stottern, wie sie in uns geläufigen Therapien durch Desensibilisierung bearbeitet werden, sondern um das Herauslassen irgendwelcher unterdrückter Gefühle der Vergangenheit, die in einer Art Selbsthypnose zunächst erkannt und anschließend herausgelassen werden.

5. Dimension: Traumatische Ereignisse
Ich übersetze einfach mal den einleitenden Satz: (S. 125)

Zitat

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Kinder werden in aller Regel nach dem 2. Lebensjahr durch Angst zu Stotterern. Von diesem Moment an gewinnen die Dinge, die sie erleben, an Bedeutung. Das Kind geht in einen Supermarkt und stottert, bleibt hängen. Einige ungezogene Leute in seiner Umgebung lachen darüber. Die Kamera im Unterbewusstsein aber macht "klick" und hält diese Szene fest...

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Bei der Dimension traumatische Ereignisse geht es um Hypnose, die während der Therapie zum Einsatz kommt...

Ich möchte zwei weitere Zitate übersetzen: (S. 129)

Zitat

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Ich sage immer, Stottern ist eine Angewohnheit. Die Angewohnheit wiederum ist die Gesamtheit von Reflexen und Bewegungen. Ihr müsst für die Stotterbehandlung eure Übungen derart planmäßig und nach Programm durchführen, dass eure Ein- und Ausatmung, eure Block-Löse-Techniken, euer Stehen und Sitzen sich automatisieren. An dem Tag, an dem sie sich automatisiert haben, wird euer Stotter-Problem einfach verschwinden.

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Und Seite 131:

Zitat

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Wenn ich euch in den Sitzungen beharrlich sage, "bitte, Leute, übt, übt!" dann hat das seinen Sinn, seinen Grund. Ihr müsst dieselbe Bewegung so oft durchführen, dass sie sich automatisiert, und wenn sie zum Reflex wird, dann werdet ihr einfach so losreden können. Wenn ihr es nicht schafft, sie zu einem Reflex werden zu lassen, wenn ihr die Übungen nicht macht, dann wird eure Atmung nach dem alten System weitergehen. Die Blocks, die sich an der Stelle bilden, werden wie gehabt weitergehen, und ihr werdet weiter stottern und hängenblieben. Bitte beachtet die Übungen. Vernachlässigt sie nicht. Wer die Techniken, schön zu sprechen, in einen Reflex verwandelt, der wird vom Stottern erlöst.

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Wenn in unserer Facebook-Gruppe nach dem Buch gefragt wird, melden sich immer wieder Leute, die an der Therapie bei dem Psychologen H.S. teilgenommen haben. Interessanterweise ist keiner von ihnen geheilt. Zwei von ihnen haben an dem Hangout zu Stotter-Modifikationen teilgenommen, das ich im Teil 4 verlinkt habe.
Einer berichtet dort über die Kasseler Stotter-Therapie, die er nach seiner gescheiterten Therapie bei dem Psychologen besucht hat, der andere berichtet von seiner Therapie bei H.S., die ihn zumindest weitergebracht hat.
Er sagt, dass er in einer WhatsApp-Gruppe von etwa 50 Ex-Patienten jenes Psychologen ist und keiner solch große Fortschritte gemacht habe wie er.
Er sei die Ausnahme.

Es geht in dieser Art Therapien immer um "Heilung", und was zählt, ist "objektiv" flüssiges Sprechen, aber nicht das, was der Stotternde in dem Moment fühlt.
Also jemand, der objektiv flüssig redet mit vertauschten Wörtern, eingeschobenen "äh - äh" und der ständigen Angst, er könnte doch hängenbleiben, wird als "er/sie stottert nicht" gepriesen.
E. nennt diese Art sprechen: "Flüssig sprechen mit der Hand am Abzug".

Was mich an der Sprache des Buches aufregt, was ich - insbesondere für einen Psychologen - für völlig daneben halte, ist die ständige Erwähnung von Fehlern, die Stotternde angeblich machen. Der Stotternde selbst spricht falsch, er hat sich eine falsche Sprechgewohnheit angeeignet, die er selber ablegen könnte. Ständig werden Ursache und Wirkung vertauscht, die Atmung ist schuld am Stottern, nicht umgekehrt.
Mit Ausdrücken wie "er spricht schön" oder "wir lernen, schön zu sprechen" werden ferner die Gefühle des Lesers ausgebeutet. Nicht von "flüssig Sprechen" ist die Rede, sondern er macht Sprechen durch den Begriff "schön" zu etwas Ästhetischem.

Dies sind Dinge, die wir durch unsere Hangouts mit der türkischen Gruppe massiv bekämpfen, und wo wir die türkischen Therapeuten, die an den Unis nach modernsten Methoden ausgebildet werden, hinter uns haben.

Glücklicherweise wurde genau in dem Jahr (2016), als ich tätig wurde, das Buch "An einen Stotterer" (Englisch: Advice to those who stutter" an der Universität Hacettepe (Ankara) ins Türkische übersetzt und veröffentlicht. Nun haben wir zumindest ein Buch, das wir dem Humbug jenes Psychologen entgegensetzen können.
Ach ja, der Psychologe ist Mitglied in unserer Gruppe. Ob er wirklich still mitliest oder nicht, weiß ich nicht. Zumindest hat er irgendwann eine Mitgliedsanfrage gestellt und ich habe ihn aufgenommen.

Wie es weitergegangen ist, erzähle ich in der nächsten Episode.

Nachdem ich die Methode des Psychologen H.S. kurz dargestellt habe, möchte ich hier auch noch mal auf die herkömmlichen Stotter-Behandlungen in der Türkei eingehen.

Zunächst einmal sind da die religiösen Heiler, meistens ausgebildete Imame oder sog. Hodschas oder einfach nur weise Heiler ohne irgendwelche Ausbildung.
Man nahm das Kind und ging zu solch einem Heiler, der dann irgendwelche Gebete sprach oder Koranverse in einem Talisman (Muska) einnähte, die sich das stotternde Kind dann um den Hals hängen musste.
Das schlimmste, was ich in dem Zusammenhang von einem Gruppenmitglied unserer Facebook-Gruppe gelesen habe, war, dass ihm solch ein Heiler in den Mund gespuckt habe, um seine Zunge zu lösen.

Mit zunehmender Gesundheitsversorgung suchten Eltern stotternder Kinder dann eher Ärzte auf, die jedoch auch nicht weiterhelfen konnten.
Psychologen nahmen sich des Problems an, indem sie propagierten, es handele sich um ein "rein psychisches Problem" (s. H.S.). Derartige Behauptungen beruhten dann auf einem älteren Wissensstand aus dem Westen, was meistens damit zusammenhängt, dass westliche Literatur erst sehr spät oder gar nicht ins Türkische übersetzt wird bzw. türkische Studierende kaum Englisch können.

In das Vakuum, das auf dem Therapiemarkt herrschte, drängten sich Personen unterschiedlichster Vorbildung, die mit oder ohne nennenswerte Ausbildung "Stotter-Zentren" eröffneten (s. Plakat in Teil 2).

Eine gängige Methode (vermutlich aus Bulgarien eingeführt) war und ist, dass die Teilnehmer erst einmal eine Zeitlang, in aller Regel eine Woche vollkommen schweigen müssen, um das Gehirn (Sprachzentrum) zu resetten.
Sehr beliebt ist auch, sich Watte in ein Ohr zu stopfen, um die "schwache" linke Gehirnhälfte zu aktivieren. (Offenbar gibt es doch einiges Wissen über den Forschungsstand )

Danach beginnt man mit Atemübungen (Zwerchfellatmung) und macht Sprechübungen, zunächst eine Silbe pro Atemzug, was dann gesteigert wird.
Die Stotter-Zentren haben Namen wie "Rhythmik-Sprechzentrum" oder "Melodie-Sprechzentrum", wobei wir uns unter Melodie etwas anderes vorstellen als das, was die meinen, nämlich bei ihnen ist das sogenannte "melodische" Sprechen ein monotones Sprechen von Silben (ähnlich Metronomsprechen). Rhythmisches Sprechen ist praktisch dasselbe. Was auch sehr beliebt ist, ist prolongiertes Sprechen, dabei wird nur die erste Silbe eines Wortes gedehnt und später möglichst natürlichem Sprechen angenähert.

Während der "Ausbildung" oder "Kurse" müssen die Teilnehmer am Computer Sprechübungen machen, außerdem üben sie die Laute richtig zu artikulieren. Ein Verlassen des Therapieraumes kommt nicht vor, dafür aber darf man mit dem Griffel zwischen den Zähnen Sprechübungen absolvieren. Außerdem gibt es Apps zum Herunterladen, um die Übungen zu Hause weiterzumachen.

Sicherlich wird niemand sich wundern, wenn ich sage, dass der allgemeine Tenor der Teilnehmer dieser Kurse ist, dass sie eine vorübergehende Besserung bis hin zu "nicht mehr stottern" erlebt haben, das ganze Gerüst jedoch kurz nach Abschluss der Therapie in sich zusammenbricht.
Am meisten bemerken die Teilnehmer, dass sie im Schonraum die Sprechtechniken gut anwenden konnten, dass sich dieses "melodische" oder "rhythmische" Sprechen im Alltag jedoch überhaupt nicht eignen würde.
Ach ja: und auch die Kurse, die eine "Geld-zurück-Garantie" anbieten, zahlen niemals die Kursgebühr zurück, weil sie immer eine Begründung haben, dass der Teilnehmer nicht genug geübt habe. Die versprochene "Heilung" tritt bzw. trat also nie ein.

Wie es um echte Therapeuten in der Türkei bestellt ist, berichte ich in der nächsten Episode!

Richtige Sprachtherapeuten gibt es in der Türkei erst seit den 2000'ern, vielleicht einige wenige ein paar Jahre früher.
Einer der Pioniere war Ahmet Konrot an der Universität Eskisehir, der dort das Institut DILKOM leitete. Er hat seine Ausbildung zum Sprach- und Sprechtherapeuten bereits in den 80'ern in England gemacht, allerdings begann der Fachbereich erst sehr viel später in der Türkei zu florieren.
Heute bereits im Rentenalter, ist er immer noch an der Universität Üsküdar aktiv und pflegt enge Kontakte zur Stotterer-Selbthilfe.

Eine schulische Logopädieausbildung gibt es nicht, der Bereich Sprachtherapie war bis vor wenigen Jahren ein reines Master-Studium, während der Bachelor vorher zumeist in anderen Fachrichtungen (z.B. Psychologie, Sonderpädagogik etc.) absolviert wurde, allerdings ist es in den letzten Jahren zu einem vollwertigen Studiengang geworden, der mittlerweile an vielen Universitäten der Türkei angeboten wird.

Viele Therapeutenanwärter machen im Anschluss noch ihren Doktor, sodass sie als neue Dozenten und Professoren in weitere Universitäten ausschwärmen und das Fach immer weiter verbreiten.

In mehreren Hangouts mit türkischen Sprachtherapeuten war ich beeindruckt von der Vielseitigkeit ihres Wissens und von der Professionalität im Umgang mit Stotterern.

Lange Zeit wurde nur nach Fluency-Shaping-Ansätzen gearbeitet, doch dank bekannter Namen wie Hartmut Zückner und Claudia Walther, die Fortbildungen in der Türkei gegeben haben, wird auch immer mehr auf Modifikation gesetzt. Auch lassen es sich die Therapeuten einiges kosten, um im Ausland ihr Wissen zu erweitern und an internationalen Fortbildungen teilzunehmen. Das Geld haben sie!

Und da kommt auch bereits die Hauptkritik an dem derzeitigen System.
Leider ist Therapie immer noch vielerorts Privatsache. Das heißt die Krankenversorgung übernimmt die Therapiekosten nur dann, wenn an staatlichen Krankenhäusern oder Reha-Zentren auch Sprachtherapie angeboten wird.
Dies bedeutet dann, dass der Patient sich ein Attest einer Gesundheitskommission holen muss, mit dem er dann in den nächsten 2 Jahren kostenlos bis zu 2 Sitzungen wöchentlich Therapie bekommt.
Da jedoch die Datenschutzbestimmungen in der Türkei mehr als lasch sind, befürchten viele Eltern, dass das Stigma "Stotterer" die Personal-/Schülerakte des Kindes lebenslang begleiten wird und bei der späteren Berufswahl zum Hindernis werden könnte. (Offiziell müsste der Eintrag nach zwei Jahren gelöscht werden).

Daher ziehen viele es vor, viel eigenes Geld (oftmals 200-300 TL pro Sitzung) in die Hand zu nehmen, um den Therapeuten privat zu bezahlen, nur damit in der Schülerakte des Kindes kein Eintrag erscheint.
Private Therapeuten haben auch den Vorteil, dass sie selbst entscheiden können, wie und wo sie therapieren. Sie können auf die Straße gehen und in-vivo arbeiten, sie können aber auch im Therapieraum verweilen.

Diese Freiheit hat ein staatlich angestellter und von der Gesundheitsversorgung bezahlter Therapeut nicht, er ist dazu verdammt, in seinen vier Wänden zu bleiben und dort mit dem Patienten allein zu arbeiten. Jeder von uns weiß, dass eine gute Stottertherapie ohne in-vivo-Arbeit nicht wirklich funktioniert, oder wie Holger Prüß in dem Werbevideo der Bonner Stottertherapie sagt (aus der Erinnerung zitiert): "Der Erfolg einer Stottertherapie zeigt sich außerhalb des Therapieraumes."

Nun gibt es leider immer noch ein großes Problem bei den Erwartungen. Ein privat arbeitender Therapeut klärt den Patienten auf, dass sein Stottern sich lediglich kontrollieren, nicht aber heilen lässt und verlangt für eine Sitzung eine Menge Geld.

Ein paar Straßen weiter prangt an jeder Hauswand die Aufschrift "Schluss mit Stottern in 15 Tagen" bei einem Festpreis von xx türkischer Lira.
Welcher junge Mensch ist da nicht versucht, den Festpreis und die 15 Tage Arbeit auf sich zu nehmen in der Hoffnung, geheilt zu werden?

Während bei uns ein aufgeklärter Stotterer eigentlich selten derartigen Werbeslogans zum Opfer fällt, allein weil Logopäden und die Bundesvereinigung flächendeckende Aufklärungsarbeit leisten, haben die Sprech- und Sprachtherapeuten nicht immer einen leichten Stand im Kampf gegen all die unseriösen Anbieter.

Und an dieser Stelle nun treten wir auf - Hand in Hand mit den akademischen Sprachtherapeuten, um die Stotternden dazu zu animieren, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Wie von einer Cyber-Selbsthilfe eine echte mit realen Treffen geworden ist, beschreibe ich in der nächsten Episode.

Wir hatten nun also eine wachsende Mitgliederanzahl in der Gruppe, führten nach und nach Informations- und Austausch-Hangouts durch, aber immer noch gab es keine Treffen von Mensch zu Mensch in der Türkei.

Ich erinnere mich, dass ein älteres Gruppenmitglied in Istanbul zu einem Treffen aufrief (es sollte im September 2016 stattfinden), dass er sogar eine "Veranstaltung" erstellt hatte, aber im Endeffekt erschienen nur 2 Personen. Gab es denn nur 2 Stotterer in einer Stadt mit 18-20 Millionen Einwohnern?

Das änderte sich bald, als wir die Bekanntschaft mit der jungen Dame Özüm machten. Sie suchte nach Mitstreitern, die sich mit ihr treffen wollten. Auch sie hatte eine Therapie nach Van Riper gemacht und war aus beruflichen Gründen von Izmir nach Istanbul gezogen.

Unter ihrer Regie bildete sich schnell ein Grüppchen von Leuten, die sich regelmäßig jedes Wochenende trafen. Sie erhielten Räumlichkeiten eines Behindertenverbandes, wo sie sich treffen konnten, und ein großer Bestandteil ihrer Arbeit war, dass sie öffentliches Sprechen im Schonraum übten, um anschließend auf der Straße vor Publikum Pseudo-stottern zu üben.
Einige Bilder der Treffen findest du hier http://kekemelerdernegi.com.

Wir standen in engem Kontakt, und ich wies darauf hin, dass, wenn sie etwas erreichen wollten, sie unbedingt zu einer Institution, einem Verein werden müssten. Da sie unerfahren waren, baten sie mich um die Satzung der Bundesvereinigung, die ich ihnen zeitnah übersetzte und darauf verwies, dass sie sicherlich das unterschiedliche Vereinsrecht bei uns wie bei sich beachten mussten.

Aber auch da waren sie ganz pragmatisch, und so gründeten sie bereits im April 2017 den "Verein der Stotternden" (Kekemeler Dernegi) und nahmen gleich Kontakt zu Professoren und Studierenden der Sprachheilpädagogik auf, die mit ihnen bereits zum 22. Oktober 2017 die erste Konferenz ausrichteten.
Mittlerweile hat es vier solcher Konferenzen in Istanbul und fünf insgesamt gegeben. Auf der Konferenz zum ersten Jahrestag hatte ich die Ehre, über die Geschichte der deutschen Stotterer-Selbsthilfe referieren zu dürfen.

Auch viele von euch haben die Bekanntschaft mit einem Teil des Vereins gemacht, nämlich als wir vier Vorstandsmitglieder zum Buko nach Nürnberg einluden - und ein Jahr darauf gleich eine ganze Gruppe bestehend aus Stotternden und Therapeuten, mit denen wir noch ein Rahmenprogramm mit einem Besuch bei der Bonner Stottertherapie und an der Universität Aachen sowie bei der BVSS in Köln absolvierten.
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Buko Nürnberg
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Auf dem Weg nach Aachen 2018
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Vor der Uni Aachen 2018

Dadurch, dass die Mitglieder der Selbsthilfegruppen regelmäßig Videos von ihren Treffen in die Gruppe stellten, bildeten sich im Laufe des ersten Jahres Gruppen in über 40 türkischen Städten.

Die Vereinsverantwortlichen erstellten WhatsApp-Gruppen für alle gängigen türkischen Städte, damit die Leute sich treffen können, und für die Städte, in denen es keine Gruppen gibt, gibt es die Türkei-Gruppe. Auch nahm der Verein Kontakt zu Sprachtherapeuten auf und handelte für Mitglieder Rabatte bei den Therapiestunden aus.

Sicher ist es ein Manko, dass es wenige gut therapierte Leute gibt, die eine Leitfunktion in den Gruppen übernehmen und eine Übungsmöglichkeit schaffen können. In aller Regel sind es "Flow"-Gruppen, das Durchschnittsalter liegt bei unter 25, und es gibt praktisch keine älteren Ansprechpartner mit jahrelanger Erfahrung.
Zwar haben die einzelnen Leute oft etliche sogenannte "Kurse" besucht, aber ein wirksames Mittel zur Stotterkontrolle haben sie in aller Regel nicht an der Hand oder neigen dazu, Therapie generell schlechtzumachen, weil: bringt nichts, viel zu teuer.

Die wenigen Leitfiguren allerdings, die alle die Philosophie von Van Riper verinnerlicht haben, benutzen das Mittel des "easy stuttering" (also ein zweckmäßiges Pseudo-Stottern), um nicht in Blocks zu geraten und die Sprechflüssigkeit aufrechtzuerhalten. Die Tatsache, dass sie sich dabei häufig filmen und die Videos ins Netz stellen, stellt für die nicht so erfahrenen Leute aus der Gruppe eine unheimliche Vorbildfunktion und Motivation dar.

Der Slogan der türkischen Selbsthilfe: Ö-ö-özgürce ke-ke-kekele (Sto-sto-stotter f-f-frei heraus!)
Hier nun einige Bilder der Gruppen Tekirdag, Istanbul und Izmir neueren Datums:
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Tekirdag
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Istanbul (Treffen mit einer Sprachtherapeutin)
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Izmir

Nun stellt sich sicher der eine oder andere die Frage, ob die Bedingungen, unter denen Stotternde in der Türkei leben, dieselben sind wie die, unter denen wir hier in Deutschland bzw. Europa leben.

Tatsächlich ist ihre Situation ganz anders als hier - oder vielleicht auf einem Stand, den wir hier vor ca. 50 Jahren hatten.
Erst im Vergleich können wir feststellen, dass wir es eigentlich recht gut haben, und dazu hat sicher auch die BVSS einen großen Teil mit beigetragen.

In der Türkei tun sich für die Vereinigung der Stotternden folgende Baustellen auf:

Öffentliches Image des Stotterns
Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt
Anerkennung als Behinderte
Zusammenarbeit mit Forschung und Lehre
Kostenloser Zugang zu Therapien für alle

Baustelle "Öffentliches Image"

Das öffentliche Image des Stotterns wird in der Türkei immer noch stark geprägt von alten Mythen, unreflektierten Comedy-Sendungen oder Filmen und den immer noch weit verbreiteten Pseudo-Therapeuten, die allen erzählen, Stottern sei eine Angewohnheit und ein rein psychisches Problem.
Somit werden Stotternde nicht nur mit renitenten Rauchern auf eine Stufe gestellt, man betrachtet sie auch als psychisch gestört und ziert sich nicht, über sie zu lachen.

Es gehört zu den täglichen Beschwerden der Mitglieder unserer Facebook-Gruppe, dass sie in der Realität oder am Telefon gefragt werden: "ist da niemand, der richtig sprechen kann?" oder dass man im Handy-Shop oder anderweitig, wo sie sich artikulieren müssen, über sie lacht.

Eine allgemeine Tendenz in der türkischen Gesellschaft, nämlich Menschen, die von der Norm abweichen, mit gut gemeinten Ratschlägen umzuerziehen, wirkt sich auch auf Stotternde aus, sodass sie immer wieder zu hören bekommen, wie Cousin X oder Nachbar Y sein Stottern besiegt habe (mit abenteuerlichen Dingen wie Schreien gegen die Gischt oder Essen von Wachteleiern) was für Stotternde, die bereits alles versucht haben, frustrierend ist.

Auch in der Facebook-Gruppe werden derartige Fragen öffentlich diskutiert im Sinne: "Was haltet ihr davon, laut gegen die Gischt anzuschreien" oder "Habt ihr schon mal Wachteleier gegessen?" Die Kommentare sind überwältigend - ohne dass jemand es je versucht hätte und nur wiederum einen anderen Cousin Z kennt, der auch solch eine Wunderheilung erlebt hätte.

Neulich erst berichtete einer von einem Stotternden, der nun nicht mehr stottere und ein Video ins Netz gestellt hätte. Das Video verlinkte er gleich. Daneben, dass die Ratschläge des jungen Mannes ganz pragmatisch waren, hat mich der Titel des Videos fürchterlich aufgeregt: "Einzige Lösung gegen Stottern".

Wie sollen sich Stotternde unter so vielen einzigen und endgültigen Lösungen noch zurechtfinden?

Ein weiteres Problem im öffentlichen Umgang mit Stottern ist, dass die Türken in ihrer Hilfsbereitschaft Stotternden schon ins Wort fallen, wenn sie nur eine Viertelsekunde zögern. Sie meinen es gut!
Dasselbe praktizieren sie, wenn ein Kleinkind stürzt. Ehe es sich berappelt und selber aufsteht, hat der nächste Erwachsene es auf die Füße gestellt. Und anstatt Kinder ihre Erfahrungen selber machen zu lassen, heißt es nur "das kannst du nicht!"
In dieser Hilfsbereitschaft berichten viele Betroffene, dass man ihnen in der Familie nichts zutraut, sie außen vor lässt und stets schonen will. Zum Bäcker geht der Bruder oder die Schwester, im Minibus warten sie, bis ein anderer sagt "an der nächsten Ecke bitte anhalten!" und laufen ggf. kilometerweit zurück, und selbst beim Arzt bekommen sie zu hören: "So viel Zeit habe ich nicht!"

In Fällen wie dem Letzteren, oder wenn jemand in einem Geschäft respektlos behandelt wird, bestärken ich und die Co-Admins unserer Gruppe die Leute, sie sollen sich an die entsprechenden Vorgesetzten wenden, sollen Mails schreiben, Beschwerden vorbringen und sich keine Respektlosigkeiten gefallen lassen. Wir sagen, dass es oftmals ausreicht zu sagen: "Ich bin Stotterer und brauche etwas länger!" und es ist immer wieder erfreulich, wenn jemand unseren Rat befolgt und glücklich berichtet, wie sich Leute bei ihnen entschuldigt haben.

Um an diesem Status Quo etwas zu ändern, hat die Stotterer-Selbsthilfe bereits im ersten Jahr ihrer Existenz mehrere Zeitungen und Fernsehsender kontaktiert und Interviews über ihre Arbeit und über die Lage der Stotternden allgemein gegeben. Eine dieser Reportagen erschien bei dem Sender Habertürk https://www.haberturk.com/tv/burasi-turkiye/video/sloganlari-ozgurce-kekele/340371

Auch bei Sensations-Therapien, wie sie von der Boulevardpresse der Türkei gerne beworben werden, und bei Fernseh- oder Spielfilmen mit einer verletzenden Darstellung von Stotternden wird die Selbsthilfe-Organisation tätig. So hat sie auf ihrer Seite eine Stellungnahme abgegeben zu einem kürzlich erschienen Film http://kekemelerdernegi.com/kamuoyunun-dikkatine-kral-midasin-hazinesi-filmi-basin-aciklamasi/

Es gibt viel zu tun, vor allem muss die Zahl der Mitglieder um einiges erhöht werden, um wirklich etwas zu erreichen. Aber es passiert etwas!

Kommen wir zur Baustelle:

Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt

Während es bei uns häufig in der Fragestellung darum geht, WANN und WIE kommuniziere ich mein Stottern im Bewerbungsprozess und es auch dafür sicher individuelle Antworten gibt, so geht es in der Türkei eher um die Frage:
"Wie verberge ich mein Stottern während des Bewerbungsgespräches erfolgreich, um nicht im Vorfeld aussortiert zu werden?"

Ich will nicht leugnen, dass es auch bei uns Stotternde oft trotz guter Noten schwerer haben als Normalsprecher, wenn sie sich auf eine Stelle bewerben.
Und dass bei einer Ablehnung keine Begründung genannt wird und der Stotternde selbstverständlich denkt, das Stottern sei ausschlaggebend gewesen, ist auch nicht zufriedenstellend.

Das Problem in der Türkei ist nur, dass in den Stellenausschreibungen häufig explizit steht:
"Der Bewerber muss ein Gesundheitszeugnis vorlegen, in dem bescheinigt wird, dass er keine körperlichen und geistigen Gebrechen, keine psychischen Probleme und keine Sprech- und Sprachstörungen (oft auch direkt Stottern!) hat."

Damit wird jeder Stotternde, der versucht, sein Stottern "erfolgreich" zu verbergen, zum Lügner und betrügt seinen zukünftigen Arbeitgeber noch während des Bewerbungsprozesses.

Das schlechte Gewissen, das damit einhergeht, kombiniert mit dem Druck, flüssig sprechen zu MÜSSEN, ist für die meisten Stotternden eine unglaubliche Belastung.
Viele fragen sich, warum sie sich die Mühe gemacht haben, nach dem Abitur jahrelang zu studieren, wenn sie doch danach als Straßenhändler enden oder bei Onkel Ahmet im Friseursalon die Haare zusammenkehren müssen.

Empathie seitens der Arbeitgeber gibt es nicht. Die Türkei hat eine unglaublich junge Gesellschaft und einen hohen Anteil an Akademikern unter den jungen Menschen. Mich erinnert die Situation an die Aussage einer Chinesin, die auf dem Kongress der amerikanischen Selbsthilfe (ich glaube es war 2016 oder 2017) nach der Situation in China gefragt wurde, und die sagte: "Bei uns ist die Auswahl an Fachkräften so groß, dass nur die Besten eingestellt werden. Als Stotternde bleibt dir dabei keine andere Wahl, als dein Stottern irgendwie erfolgreich zu verbergen."

Das größte Bewerbungsverfahren in der Türkei ist das KPSS, das Auswahlverfahren für den öffentlichen Dienst, das die meisten jungen Akademiker aller Fachrichtungen nach der Uni anstreben.
Dieses Verfahren wurde noch vor wenigen Jahren mit einer rein schriftlichen Prüfung durchgeführt. Wer die höchste Punktzahl hatte, wurde auf die offenen Stellen verteilt, und darunter waren auch viele Stotternde.
Seit einigen Jahren, insbesondere nach dem gescheiterten Militärputsch 2016, als man überrascht(!) feststellte, dass der gesamte öffentliche Sektor von Anhängern der Gülen-Bewegung unterwandert war, wurde jedoch ein Bewerbungsgespräch drangehängt. Insider erzählen, dass es dabei nicht etwa darum ginge, den Bewerber einmal persönlich kennenzulernen und zu befragen, welche beruflichen Erfahrungen und persönlichen Eignungen er hat, sondern um eine Art Gewissensprüfung: welche Terrororganisationen kennen Sie, wie stehen Sie zur türkischen Regierung?

Nichtsdestotrotz werden auch die Stotternden dieser Prüfung unterzogen, und wenn sie sich dabei als Stotterer enttarnen, dann sind sie raus; trotz schriftlicher Bestnoten.

Unter diesen Umständen wird man sich fragen, ob es nicht so etwas wie "Rechte von Menschen mit Behinderungen" gibt. Auch die gibt es, für Behinderte gibt es ein gesondertes Auswahlverfahren für den öffentlichen Dienst, das EKPSS.

Problem ist nur, dass Stottern keine anerkannte Behinderung ist!
Und damit kommen wir zur nächsten Baustelle...

Es ist tatsächlich ein Problem für die türkischen Stotterer, dass sie weder als Behinderte, noch als Nicht-Behinderte wahrgenommen werden.

Zwar ist es auch bei uns so, dass viele Stotternde sich mit dem Begriff "behindert" nicht identifizieren können, aber es herrscht doch allgemein die Akzeptanz, dass Stottern etwas ist, wofür man persönlich nichts kann. Leicht bis mittelschwer Stotternde finden in aller Regel eine ihrer Qualifikation entsprechende Beschäftigung, wer eine schwere Symptomatik hat, der kann sich auch einen Behinderungsgrad anerkennen lassen oder zumindest die Gleichstellung beantragen.
(Bitte korrigiert mich, wenn hier etwas nicht richtig wiedergegeben ist).

Anders in der Türkei. Durch den Ausschluss vom Ausschreibungsverfahren im öffentlichen Dienst, KPSS, wenn in der Stellenausschreibung ein entsprechendes Attest gefordert wird, ist eine Bewerbung - wie im Teil 10 beschrieben - praktisch zwecklos, aber um am Behinderten-Auswahlverfahren teilnehmen zu können, bedarf es eines Behinderungsgrades von mindestens 40% (soweit ich mich erinnere). Diesen bekommt man allerdings nicht allein durch Stottern. Selbst wenn dieser Punkt bei uns ähnlich sein mag (was den Grad der Behinderung angeht), ich habe bislang nirgendwo in Stellenausschreibungen in Deutschland gelesen, dass ein Bewerber nicht stottern darf.
Vermutlich ist dies aufgrund des Gleichberechtigungsgrundsatzes auch gar nicht zulässig - jedenfalls nicht in Berufen, wo das Sprechen nicht primär im Vordergrund steht (Rundfunkmoderator etc.).

In der Türkei hingegen heißt es einfach "er/sie darf nicht stottern."
Ganz besonders ärgern sich die jungen Männer, dass das Stottern kein Ausmusterungsgrund beim Militärdienst ist, dass jedoch Leute, die sich gerne freiwillig verpflichten möchten oder eine Offizierslaufbahn anstreben, von vornherein nicht genommen werden.
Auch bei der Polizei und bei der Justiz sind Stotternde unerwünscht. (Ich kenne bei uns sowohl zwei stotternde Kriminalbeamte, als auch einen stotternden Richter)

Ich empfehle den Leuten stets, dass sie dagegen klagen sollen, damit dies einmal gerichtlich überprüft wird - bislang hat sich aber keiner da herangewagt, obwohl die Bedingungen günstig sein dürften, da zum Beispiel die Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) Stottern sehr wohl als Behinderung einstuft.
Aber es ist sicherlich sinnvoller, wenn ein Verband dagegen klagt, also in dem Falle der Verband der Stotternden.

In der Facebook-Gruppe gibt es immer wieder Leute, die entsprechende Initiativen bei Ministerien starten und die Forderung stellen, dass Stotternde als Behinderte anerkannt oder sie zumindest bei Ausschreibungsverfahren nicht benachteiligt werden - aber auch da wurde einem dieser Initiatoren empfohlen, nicht allein, sondern als Verband eine solche Petition einzureichen.

Nun, die ersten Schritte sind nun getan. Vor etwa einem Monat hat sich der Verband der Stotternden mit einigen seiner Mitglieder an einer Versammlung des Behindertenbeirates (Engelliler Meclisi) beteiligt, und der neue Vereinsvorsitzende Ayhan Caglayan wurde zum Delegierten im Behindertenbeirat gewählt.

(Ihn seht ihr im Vordergrund auf dem Selfie-Foto auf dem Bahnsteig in Teil 8, er war Teil der türkischen Delegation letztes Jahr beim Buko, er ist sowohl Betroffener, als auch frisch zertifizierter Sprachtherapeut, gerade vorgestern teilte er auf Facebook mit, dass er seine Master-Arbeit bestanden habe).

Bild entfernt (keine Rechte)

Also sehr gute Aussichten für eine Synergie von Stotternden und Therapeuten für die Zukunft in der Türkei.
Womit wir gleich bei der nächsten Baustelle wären.
Aber die beschreibe ich in der nächsten Episode.

Damit wären wir bei der nächsten Baustelle:
Zusammenarbeit mit Forschung und Lehre

Im Grunde genommen hat der Verband der Stotternden gleich zu Anfang die Weichen gestellt: indem sie Kontakt zu Universitäten und Professoren aufgenommen und diese auf die stattfindenden Konferenzen eingeladen haben.
Angehende Therapeuten haben die Möglichkeit, über die Facebook-Seite des Verbands der Stotternden oder über unsere Gruppe Probanden für ihre Masterarbeit zu suchen und damit der einheimischen Forschung einen unglaublichen Dienst zu leisten.

Gleich im ersten Jahr des Bestehens des Vereins wurde eine Studie in über 40 Städten (dank der Selbsthilfegruppen) durchgeführt, die erschreckende Ergebnisse zutage förderte.
So zeigte sich, dass die Stotternden durch all die Fehlinformationen meistens selbst nicht wissen, woran sie sind, sich selber eine psychische Macke zuschreiben (weil sie das ihr Leben lang zu hören kriegten) und die Schreck-Theorie ihres Stotterbeginns für bare Münze nehmen.

Stotternde wurden gewöhnlich an den staatlichen Universitäten nicht als Therapeuten-Anwärter zugelassen. So ist es auch immer noch z.B. am Institut DILKOM in Eskisehir.
An den Privat-Unis jedoch hat sich längst das Bewusstsein eingestellt, dass stotternde Therapeuten stotternden Patienten eine viel größere Hilfe sein können als so manche nicht stotternde Kollegen, weshalb z.B. Sertan ÖZDEMIR, der Dozent an der Universität Medipol in Istanbul und zweiter Vorsitzender des Sprach- und Sprechtherapeutenverbands ist, gerne und stolz seine stotternden Studenten präsentiert.

Auch Ayhan Caglayan, derzeitiger Vorsitzender des Verband der Stotternden, ist Betroffener und frisch gebackener Therapeut. Eine Voraussetzung ist natürlich, wie es auch immer noch bei uns ist, dass stotternde Therapeuten ihr Stottern gut kontrollieren können müssen.
Eigentlich selbstredend, wenn man davon ausgeht, dass sie für ihre Patienten eine Modellrolle einnehmen sollen.

Was die Zusammenarbeit mit Forschung und Lehre noch weiter fördert, ist, dass viele Professoren, die auf unsere Gruppe aufmerksam geworden sind, ihren Studenten als Hausaufgabe aufgeben, in unsere Facebook-Gruppe einzutreten. Immer wieder bekomme ich zu hören "mein Professor hat mich auf eure Gruppe aufmerksam gemacht, darum bin ich hier".

Eine interessante Begegnung hatte ich auch 2016, als ich mal wieder mit einer türkischen Delegation in München unterwegs war. In der Hoffnung, mal einen Austausch mit türkischen Sprachtherapeuten durchzuführen, sprach ich die Projektleitung auf dieses Anliegen an. Die Dame war ganz begeistert und berichtete, dass die Tochter eines Kollegen Sprachtherapeutin sei, gerade fertig mit der Uni. Sie stellte rasch den Kontakt her und schrieb per WhatsApp: "Hier ist eine Petra, die dich gerne mal kennenlernen möchte". Die Antwort war umwerfend: "Ist das DIE Petra von dem Stottern-Forum?"

Die junge Frau, mit der ich also Kontakt aufnahm, kannte meine Arbeit bereits, weil sie unser Stottern-Forum (das damals gerade mal 3 Monate! alt war) kannte. So klein ist die Welt

Alles in allem ein Zeichen, dass unsere Arbeit Früchte trägt.
Bleibt noch die letzte Baustelle, die ich in der nächsten Episode beschreiben möchte:

Kommen wir zur letzten Baustelle:
Kostenloser Zugang zu Therapien für alle

Bereits auf der 1-Jahreskonferenz des türkischen Verbands der Stotternden, wo ich einen Vortrag zur Geschichte der deutschen Selbsthilfe gehalten habe, war dies ein wichtiger Kritikpunkt, der dem Vizepräsidenten des Verbands der türkischen Sprach- und Sprechtherapeuten, Sertan ÖZDEMIR entgegengebracht wurde.

"Warum kosten Therapien so viel Geld, und warum erhalten wir sie nicht im Zuge der normalen Gesundheitsversorgung?"

Herr Özdemir wies - meiner Meinung nach - zurecht darauf hin, dass man ein wenig Geduld haben müsse. Die Zahl der Therapeuten multipliziert sich derzeit jedes Jahr mit dem Studienabschluss neuer Therapeuten und solchen, die nach Abschluss ihrer Doktorarbeit Stellen als Dozenten antreten und somit viele neue Sprachtherapeuten ausbilden. Aber alles braucht ein wenig Zeit.

In den Stellenausschreibungen, die jedes Jahr über den öffentlichen Dienst zur Verfügung gestellt werden, werden zunehmend mehr Sprachtherapeuten an öffentlichen Reha-Einrichtungen und Kliniken berücksichtigt.

Leider sind die Angebote bei öffentlichen Trägern auch sehr begrenzt. In-vivo-Arbeit ist nicht möglich, auch Gruppentherapien finden, soweit ich informiert bin, nicht statt. Dadurch, dass nur 2 Sitzungen pro Woche möglich sind, sind auch Intensivtherapien über ein Wochenende oder Stottercamps für Schülerinnen und Schüler nicht möglich.

Gleichzeitig machen auch öffentliche Träger wie das "Engelliler Sarayi" - die Einrichtung, die mich seinerzeit zu all den Aktivitäten animiert hat - immer noch mit ihren unqualifizierten Angeboten weiter und vermarkten diese auch noch mit reißerischen Überschriften über die Presse u.a. Medien, sodass wir es eigentlich sind, die immer mehr Leute ins Boot zu holen versuchen, um vor diesen Angeboten zu warnen bzw. die Leute, die trotzdem dorthin gehen, in ihren Erwartungen zu dämpfen.

Ich bin auf jeden Fall der Überzeugung, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wir haben über die sozialen Medien ein Türkei-weit agierendes Netzwerk von Interessierten und Experten geschaffen, die einander unterstützen und beraten. Wir haben eine Reihe von Therapeuten mit in der Gruppe, die sich zwar häufig zurückhalten ,uns aber auch immer wieder zur Seite stehen, wenn die Diskussionen kontroverser werden, oder wenn wir bei unseren Info-Hangouts einen Experten dabei haben wollen.

Man darf nicht vergessen, dass die Türkei ein großes Land ist. Mit über 80 Millionen Menschen hat sie etwa so viel Einwohner wie die Bundesrepublik bei einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist.
Wenn man bedenkt, dass es erst nach 2000 die ersten Sprachtherapeuten gab, ist es natürlich schwer, eine Vollversorgung für alle zu schaffen. Besonders in der Provinz, in Dörfern und Kleinstädten, findet man beim besten Willen auch heute noch keine Sprachtherapeuten, oft muss man Wege von bis zu 100 km in die Provinzhauptstadt in Kauf nehmen, um einen Therapeuten aufzusuchen.

Online-Angebote wären da vielleicht angesagt, werden aber - zurecht? - auch kritisch betrachtet. Wie will ich online auf die Straße gehen und Leute ansprechen? Welcher Therapie-Patient macht seine Hausaufgaben, wenn der Therapeut selbst nicht dabei ist und nur sagt: "Du gehst bis nächste Woche jeden Tag auf die Straße und quatschst täglich 20-30 Menschen an, um nach dem Weg von A nach B zu fragen?"

Es gibt noch viel zu tun, aber der Verband der Stotternden ist dran, und solange in dem neuen Vorsitzenden Ayhan CAGLAYAN sich Therapeut und Stotternder in einer Person vereinen, bin ich zuversichtlich.
Bereits dieses Jahr war ein Stotter-Camp über den Verband geplant, das leider an der Kostenübernahme durch NGO-Verbände scheiterte. Aber der Verband ist fest in NGO-Vertretungen eingebunden, und es sind besonders die nicht-Regierungs-Organisationen, die auch aus der EU Fördergelder erhalten.

Hoffen wir, dass "unsere" Beiträge an die Türkei solchen Organisationen wie dem Verband der Stotternden in der Türkei zugute kommen.
Für alles weitere werden Ercan und ich von hier aus weiterhin all unsere Kraft und Energie einsetzen.

LG Petra

Bilder der Konferenz 2018 in Istanbul
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