Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, fallen mir viele Momente ein, in denen ich mich nicht normgerecht verhalten habe.
Heute weiß ich, dass viele von den Verhaltensauffälligkeiten meinem Stottern geschuldet waren.

Ich hatte früh erkannt, dass ich nicht stottere, wenn ich in einem bestimmten Gemütszustand bin. Wenn ich locker und fröhlich bin, ein wenig überdreht, ohne Bodenhaftung. Dann konnte ich flüssig sprechen.
Die Folgte davon war, dass ich versuchte, mich in einen dauer-lockeren Zustand zu versetzen. Also alle momentanen Gefühle über den Haufen zu werfen, um ein künstliches Fröhlich-Sein zu erzeugen. Nur damit das Sprechen problemlos funktionierte.

In ernsten Situationen dagegen, vor allem dann, wenn mich jemand direkt ansprach oder mir das Wort erteilte, konnte ich manchmal keinen Ton herauskriegen.
Auch diese Erkenntnis hatte Folgen. Ich wurde vorlaut. Ja, ich war vorlaut, weil wenn ich einfach etwas in den Raum rief, dann entschied ich, wann ich etwas sage - nicht die Anderen. In der Klasse also lieber reinrufen als aufzeigen. Auch das brachte mir so manche Rüge ein.

Und beim Ansprechen von Menschen? Wenn sie mich kommen sahen, mir ins Gesicht sahen und sagten: "Was möchtest du?" dann dauerte es, bis ich etwas sagen konnte. Also peilte ich meine Mitmenschen von hinten an, und in einem Moment, in dem ich ganz sicher war, dass ich meinen Satz werde sagen können, ratterte ich ihn in einem Affentempo herunter.
Langsam ging das nicht, allein schon, weil die Anspannung enorm war. Oft hatte dies zur Folge, dass mich die Leute nicht verstanden und nachfragten. Und dann stand ich wieder da und konnte meine Frage - zumindest das wichtigste Wort darin - nicht sagen.

Ich merkte, dass ich sicherer und flüssiger war, wenn ich laut sprach. Also sprach ich laut - was wiederum zur Folge hatte, dass die Menschen mich für schwerhörig hielten und ständig aufforderten, den Ton zu drosseln. Aber ich konnte doch niemandem sagen, dass ich das machte, weil ich stottere!
Also ließ ich mich lieber zurechtweisen, als ihnen die Wahrheit zu sagen.

Auch die Sache mit dem Telefon war verzwickt. Natürlich wollte auch ich mal ans Telefon gehen und mich melden. Aber da unser Telefon dem Opa gehörte und der Bürgermeister war, musste man sich vorschriftsgemäß mit "Hier bei Piaskowski" melden. Was für ein schwieriger Satz. Aber wenn meine 3 Jahre ältere Schwester das konnte, dann wollte ich doch beweisen, dass auch ich sowas kann.

Ich weiß noch, wie ich das erste Mal ans Telefon ging und den Satz "Hier bei Piaskowski" so richtig schön sagen konnte. Ich war überwältigt vor Glück und dachte, das wird jetzt immer so gehen. Aber, wie so oft im Zusammenhang mit dem Stottern, blieb ich beim zweiten Mal bereits beim "Hier b..." stecken. Ich musste mir eine Strategie überlegen, die sowohl meine Eltern und Großeltern befriedigte, als auch stotterfrei sprechbar war. Ich entschied mich für "Hallo? Piaskowski?" Beides ein wenig fragend und melodiös. Das klappte, und zwar bombensicher. Ich musste also meinen Eltern gegenüber so tun, dass ich das "cooler" fand als den altbackenen Satz "hier bei Piaskowski!" Ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass der einzige Grund für meine "coole" Änderung war, dass ich an Hallo und solchem Singsang einfach nicht hängenblieb. Ich weiß nicht, ob ich ihnen gegenüber je die Wahrheit gebeichtet habe. In jedem Fall haben sie es damals durchgehen lassen.

Eine Sache war da, die nicht so viel Ärger einbrachte: ich merkte, dass ich flüssiger sprechen konnte, wenn ich den anderen überlegen war. Wenn ich mehr wusste, mehr konnte, größer war! Schon mit 14 übernahm ich in unserm Turnverein die Nachwuchsturnerinnen und brachte ihnen die ersten Übungen bei, unterrichtete Anfänger im Reitclub und gab Longen- und Voltigierstunden. Da sprach ich deutlich und artikuliert, und auch das wirkte sich positiv aufs Sprechen aus, aber am meisten wirkte die Tatsache, dass ich mich überlegen fühlte.
(Was nicht hieß, dass sie es nicht trotzdem merkten, dass ich stottere und es mir ins Gesicht sagten.)

Sicher hat gerade diese Erkenntnis einen großen Einfluss darauf gehabt, dass ich mir Dinge aneignete, die niemand außer mir konnte, (die aber auch niemand wissen wollte). Und es hat sicher einen erheblichen Teil dazu beigetragen, dass ich mein Leben lang gerne unterrichtet und doziert habe. Vielleicht habe ich darum nicht BWL oder Germanistik studiert, sondern Orientalistik, wo nur solche Individualisten herumliefen wie ich, die stundenlang mittelpersische Texte auseinanderfrickelten und Spaß daran hatten, alttürkische und tschagataiische Gedichte zu rezitieren und zu vertonen. (Das mochte außer mir eigentlich niemand).

Im Endeffekt haben mich all diese vom Stottern geprägten Eigenschaften zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich bin mit Sicherheit nicht der Durchschnitt. Ich bin heute nicht unzufrieden, aber ich war es lange in meiner Jugend, weil ich lange Zeit unter all diesen Dingen gelitten habe, da ich auch im Kindesalter wusste, warum ich all das so "anders" machte. Und gelitten habe ich, weil ich niemandem die Wahrheit sagen konnte. Weil ich geglaubt habe, meine Selbstachtung zu verlieren, wenn ich zugeben würde, dass ich stottere.
Dann lieber Rügen einstecken, für überkandidelt gehalten zu werden und aufgefordert werden, doch leise zu reden. Und immer das Gefühl im Bauch, du fällst auf, du bist anders, dann gleich lieber selber auffallen und anders erscheinen wollen, nur Hauptsache nicht im Zusammenhang mit Stottern!

Kennt ihr Ähnliches?

Mir fiel noch etwas dazu ein:
Während ich stets vor dem Problem stand, dass ich ja eigentlich "hier bei Piaskowski" sagen sollte und im Grunde genommen keine plausible Antwort hatte, warum ich nun nur "Hallo? Piaskowski?" sagte, beneidete ich in den abendlichen Filmen und Krimis all die amerikanischen Telefonbesitzer, die einfach nur "Hallo?" ins Telefon grunzten.

Das war der Moment, in dem ich beschloss, dass ich, wenn ich einst ein eigenes Telefon haben sollte, mich immer nur mit "Hallo" melden würde! Immerhin wusste der Anrufer ja, wen er anrufen wollte, also war es nicht meine, sondern seine Aufgabe, sich vorzustellen.

Genau so verfuhr ich dann Jahre später, und es passierte mir nicht nur einmal, dass man mich zurechtwies, dass ich mich doch bitte anständig mit Namen melden sollte, man wüsste ja sonst nicht, wer dran sei.

Meine Antwort: "die Deutschen sind die einzigen Menschen auf der Welt, die 'Hier Friedrich Schneider' ins Telefon sagen, der Rest der Welt kommt mit 'hallo' oder 'ja bitte!' sehr gut zurecht."
Da war ich allerdings auch schon so weit, dass ich ihnen hätte erklären können, dass dies aus meiner Stottergeschichte resultiert. Aber die jedem zu erklären, wäre einfach zu lang!

Hallo @Chiara ,
danke für deine ausführliche Antwort.

Zitat von Chiara im Beitrag #3

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Sehr viel später, als mein Sohn geboren war, kam das nächste große Problem auf mich zu. Sein Name! Solange er noch nicht selbst sprechen konnte, wurde natürlich ich gefragt. Es ist dann öfter vorgekommen, dass ich einen Block hatte. Es kam dann schon einmal diese Reaktion: "Wie? Wissen Sie nicht mehr, wie Ihr Kind heißt? Hahaha...". Meist wurde dann aber sehr schnell klar, dass ich stotterte. Aber bei diesem bestimmten Anfangsbuchstaben habe ich heute noch meine Schwierigkeiten, genauso wie bei meinem eigenen Namen.

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