Hallo @PetraS,

ich halte es für irrelevant, wie leicht oder stark die Frau in dem Video stottert, um eine Antwort auf Deine Fragen zu geben. Für den Arbeitgeber wird relevant gewesen sein, wie stark sie in den von ihr selbst genannten problematischen Situationen bei der Arbeit gestottert hat, nämlich „beim Erzählen von Geschichten“ und „im Umgang mit den Eltern“. Diese Information fehlt hier. Der Hinweis, „ihre 4,5 jährige Tochter habe auch kürzlich angefangen zu stottern“, bestätigt außerdem, den (nicht nur in der Türkei) bestehenden Mythos, „dass Kinder es sich »abgucken« können“, unabhängig vom Wahrheitsgehalt. Natürlich ist es nicht schön, sich einer solchen Bewertung von außen ausgeliefert zu sehen, und aufgrund dessen eine Stelle zu verlieren, für die man vorher geeignet schien. Aber das sind nun mal die Fakten. In der genannten Einrichtung, wird es sicherlich nicht vorkommen, „ dass ein stotterndes Kind in die Einrichtung kommt“. Eine Heimleitung, die einem stotternden Mitarbeiter aufgrund des Stotterns kündigt, wird die Aufnahme eines stotternden Kindes von Vornherein unter Angabe fadenscheiniger Begründungen zu unterbinden wissen.

Stottern wurde früher und wird auch heute noch oft als Kompetenzkriterium herangezogen. Meiner Meinung nach wird dies trotz besseren Wissens der Stotterers selbst und trotz aller Aufklärungsversuche, niemals zur Gänze aus den Köpfen anderer Menschen zu löschen sein.

Deine erste Frage, ob so etwas in Deutschland möglich oder zulässig wäre? Dass es möglich ist, hast Du ja schon selbst beantwortet. Dass es zulässig ist? Juristisch kann ich das nicht beantworten. Aber warum sollte einen der Arbeitgeber weiterhin beschäftigen, wenn er der Meinung ist, man könne seinen Arbeitsauftrag nur unzureichend oder gar nicht erfüllen? Wenn einen der Arbeitgeber für ungeeignet hält, dann ist das nun mal so.

Wenn das Erzählen von Geschichten vor einer Gruppe von Kindern beispielsweise von so starken Blockaden begleitet ist, dass der Geschichte inhaltlich trotz aller Aufmerksamkeit und Konzentration nicht mehr zu folgen ist, dann bedeutet das für die Kinder eher Stress als Vergnügen. Davon abgesehen, dass das Erzählen auch für den Erzählenden von Stress begleitet wird, der sich wiederum auf die Zuhörer überträgt.

Wenn Eltern eine Erzieherin ausschließlich als stark stotternde und unter Anspannung stehende Person erleben, wo soll das Vertrauen herkommen, dass diese Person beispielsweise bei einem Notfall für das Kind sorgen kann? Was, wenn sich das eigene Kind in der Einrichtung schwer verletzt, die Rettung gerufen werden muss, und nur die stotternde Erzieherin anwesend ist, die dann am Telefon eine so starke Blockade erlebt, dass es ihr unmöglich ist, ihr Anliegen zu artikulieren? Die Annahme einer solchen Situation ist ein durchaus realistisches Szenario. Für mich ist es zumindest verständlich, dass es Eltern unter solchen Voraussetzungen an Vertrauen mangelt.

Ich weiß nicht, ob sich jeder Stotterer vor der Wahl seines Berufes Gedanken darüber macht, ob er dem Beruf auch „sprecherisch“ gewachsen sein wird. Nicht bei jeder Berufswahl wird das erforderlich sein. Sicherlich ist auch die Stärke der Symptomatik ein Kriterium. Wenn jemand sein berufliches Ziel ganz klar erkennt, wird er möglicherweise auch eher dazu befähigt sein, jede „sprecherische“ Hürde zu meistern, die sich ihm in den Weg stellt. Einfach deswegen, weil das berufliche Ziel so wichtig ist.

Wer aber einen Beruf wählt, bei dem Sprechen und erzieherisches Wirken so klar im Vordergrund stehen, muss sich darüber Gedanken machen, welche Wirkung er auf andere erzeugt. Wirke ich gelassen und souverän? Stiftet mein Auftreten Vertrauen? Hält man mich für kompetent? Oder verbreite ich Stress und Unruhe? Werden Menschen in meiner Gegenwart nervös? Kann ich in einer Gefahrensituation beruhigen und meinen Arbeitsauftrag erfüllen? Wenn ich im Moment der Meinung bin, dem angestrebten Tätigkeitsfeld noch nicht vollumfänglich gerecht zu werden, was kann ich tun, um mich so zu entwickeln, dass es zu einem späteren Zeitpunkt eventuell doch möglich wird? Aus meiner Sicht, sind das alles Fragen, die sich jeder Stotterer zunächst einmal selbst beantworten muss, bevor er sich der Kompetenzbewertung durch andere aussetzt.

Gut, dass die junge Frau eine neue Arbeitsstelle gefunden hat. Dass, was der vorherige Arbeitgeber als Ausschlusskriterium gewertet hat, scheint für den neuen Arbeitgeber nicht relevant zu sein. Arbeitsrechtlich würde ich mich nicht wehren. Das raubt Energie, die besser in Anderes investiert ist. Ich würde mir aber Gedanken über die Kündigungsbegründung (insofern detailliert formuliert) des vorherigen Arbeitgebers machen, um die Stellen in der eigenen Persönlichkeit zu finden, an denen sich Innenschau lohnt.

Bei mir selbst weiß ich inzwischen, dass sich die Stärke meiner eigenen Symptomatik hauptsächlich darauf bezieht, wie wohl ich mich in einer Situation fühle, wie sicher, ob sie mich befriedigt, fordert oder überfordert. Ich kann viele Situationen benennen, in denen ich früher überfordert war (und gar nicht sprechen konnte), und in denen ich mich heute wohl fühle (mir also gar keine Gedanken mehr machen muss und fließend spreche). Um vom Zustand der Überforderung zu einem Zustand des Wohlgefühls in ein und derselben Situation zu gelangen, brauchte und braucht es die Bereitschaft zu ganz viel Selbstreflexion und vor allem Zeit, denn Veränderung geschieht langsam und durch den steten Wechsel von Erleben und Fühlen.

Ich erlebe mich heute als sichere, selbstbewusst auftretende, fließende Sprecherin in Situationen, die so vor 30 Jahren undenkbar gewesen wären. Ich beziehe das darauf, dass ich gelernt habe, mich besser von der Meinung und Beurteilung durch andere Menschen abzugrenzen, ohne dabei das Bedürfnis zu haben, sie eines Besseren zu belehren oder mich selbst zu verteidigen, wenn ihre Beurteilung negativ ausfällt. Es ist OK für mich, wenn mich jemand für peinlich hält, wenn ich stottere. Er muss mir trotzdem zuhören, wenn ich ein Anliegen habe, für dessen Erfüllung er zuständig ist. Und so lange muss er meinen Sprechrhythmus auch aushalten. Wenn jedoch ich diejenige bin, an die andere ein Anliegen haben, das zu erfüllen ist, ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dem auch gewachsen zu sein. Ich werde mich also als am Telefon stark stotternder Mensch nicht für den Dienst in der Rettungsleitstelle bewerben. Und gegebenenfalls auch nicht als Erzieherin in einem Kindergarten, wenn mein aktuelles Kommunikationsverhalten nicht bei allen Beteiligten Vertrauen stiftet.

Liebe Grüße,
Annika

Entlassung wegen Stottern ist bei uns möglich, aber nicht zulässig. Wenn das in der Kündigung steht, ist das ein klarer Fall fürs Arbeitsgericht. Allerdings scheuen viele diesen Weg. In 3 Fällen habe ich erfahren, dass Einstiegsgehälter merklich unter dem Durchschnitt angeboten wurden, was mit mangelnder Kompetenz beim Telefonieren begründet worden ist. Diejenigen sind dann auch in den Folgejahren unterdurchschnittlich bezahlt worden. Einer hat die Firma später gewechselt als sein Sprechen deutlich lief, die beiden anderen sind wohl noch bei ihrem Arbeitgeber geblieben.