Hallo zusammen,

ich bin Logopäde mit langjähriger Erfahrung in der Behandlung von Stottern – und außerdem brandneues Mitglied der Selbsthilfe Köln.

Dort habe ich bei einem der – seinerzeit noch online stattfindenden Gruppentreffen - ein Buch erwähnt, das mich herausgefordert hat, meine Sichtweise auf Stottern in den letzten zwei Jahren nochmal ordentlich auf den Prüfstand zu stellen. Auch in der Gruppe ist es auf großes Interesse gestoßen, sodass die Mitglieder gleich beschlossen haben, es zu bestellen.
Das Buch ist bisher nur in englischer Sprache erschienen und deshalb in Deutschland noch nicht so richtig weit verbreitet. Ich würde sehr gerne Eure Meinung dazu wissen!

„Stammering Pride and Prejudice – Difference not defect” (Hrsg.: P. Campbell, C. Constantino und S. Simpson, J&R Press, 2019) versammelt Beiträge von Stotternden, die in der Selbsthilfe in Großbritannien und den USA aktiv sind sowie von Sprachtherapeut’innen und Menschen, die sich wissenschaftlich mit dem Stottern auseinandersetzen.

„Stammering Pride“ sieht im Zuge der allgemeinen Debatte um die gesellschaftliche Anerkennung von Diversität auch die Chance, einen neuen Blick auf die Situation von Stotternden zu werfen.

Als Beispiel sei hier der Beitrag von Chris Constantino genannt, der den Begriff „Stuttering gain“ ins Zentrum stellt. Er verwehrt sich gegen die vorherrschende Sichtweise auf Stottern: dass nur der Versuch, es zu überwinden, den/die Stotternde stärker macht.

Seine Frage ist: welche Vorteile hat eigentlich das Stottern? Für die stotternde Person, aber auch für die ganze Gesellschaft? Ist Stottern – wenn man es nicht als „Funktionsstörung“, sondern lediglich als eine mögliche „Kommunikationsvariante“ betrachtet, nicht etwas, was man auch genießen, feiern, wertschätzen kann? Als Ausdruck von Individualität anerkennen?

Die Grundvoraussetzung dafür ist seiner Ansicht nach, dass die Gesellschaft einen anderen Umgang mit Stottern lernt. Bisher wird Stottern vorrangig durch die medizinische Brille betrachtet: es gibt einen ICD-10-Code, der diese „Funktionsstörung“ beschreibt, es wird ein Therapiebedarf festgestellt und eine Behandlung in die Wege geleitet, denn: das Stottern soll im besten Falle verschwinden.

Muss es aber nicht, so seine Sichtweise. Was verschwinden muss, sind Hindernisse und Diskriminierung, die Stotternde immer noch erleben. Und die häufig mit dem Stottern einhergehende Sprachanstrengung und begleitende Gefühle von Sprechangst und Scham.
Kann Stottern nicht einen Beitrag dazu leisten, dass wir alle egal wie flüssig oder unflüssig wir sprechen, rücksichtsvoller und freundlicher miteinander umgehen?

Ist das etwas, das Euch anspricht? Oder nur eine schöne Utopie, die mit Eurem alltäglichen Erleben nichts zu tun hat? Ich bin sehr gespannt auf Eure Rückmeldungen! Beim Kölner Gruppenabend am 09.11. werde ich übrigens noch ein wenig ausführlicher über das Buch berichten – und über ein sehr beeindruckendes persönliches Zoom-Gespräch, das ich im Juli mit Chris Constantino führen konnte.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich an dieser Stelle auch die Tatsache, dass diese Gedanken auch in Deutschland bereits gedacht werden, so z.B. im Buch „Ihr seid viel stärker, als Ihr denkt“ von Tobias Haase und Filippo Smerili – erhältlich im Demosthenes Verlag.

Als letzten Impuls möchte ich gerne noch auf ein das Video der US-amerikanischen stotternden Poetry Slammerin Erin Schick hinweisen (da dies mein erster Beitrag hier ist, kann ich den Link leider nicht teilen): ihr Gedicht „honest speech“ ist auch im erwähnten Buch enthalten. Und ich denke auch wenn man im Englischen nicht ganz so sattelfest ist, wird deutlich, dass sie hier in drei Minuten sehr eindrucksvoll zusammenfasst, wovon das Buch im Ganzen handelt - Selbstbewusstsein, Pride, Empowerment: „This is what I sound like.“

Schöne Grüße in die Runde,

Armin