Fluency Shaping vs. Stottermodifikation

Zwei der bedeutendsten Begriffe im Zusammenhang mit Stottertherapien sind die beiden Begriffe "fluency shaping" und "Stottermodifikation".
Was aber verbirgt sich genau hinter diesen Begriffen? Sind es Gegensätze oder ergänzen beide einander?

An dieser Stelle möchte ich versuchen, diese und andere wichtige Begriffe aus den bekanntesten Stottertherapiekonzepten zu erklären.
Ich erhebe dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Jeder ist dazu angehalten, meine Forumulierungen - sollten sie nicht ganz richtig sein - zu korrigieren oder zu ergänzen. Beginnen wir mit:

FLUENCY SHAPING = (Sprech-)Flüssigkeit gestalten/aufbauen

Wie der Name sagt, konzentriert sich das Fluency Shaping darauf, flüssiges Sprechen so herzustellen, dass durch die angewandten Sprechparameter möglichst kein Stottern auftritt.
Eine bekannte Therapieeinrichtung, die nach diesem Prinzip arbeitet, ist die Kasseler Stottertherapie (KST), die in folgendem Video gut verständlich dargestellt wird:

Es wird ein weiches, gebundenes Sprechen erarbeitet, das zunächst stark übertrieben, immer mehr einer natürlichen Sprechweise angeglichen wird und die alten Sprechmuster ersetzen soll. (So der Idealfall).
Es wird also gar nicht darauf gewartet, bis Stottern auftritt, sondern es wird ein neues Sprechen gestaltet, das so aufgebaut ist, dass Stottern praktisch ausgeschlossen wird.
Man könnte auch sagen: vorsorglich wird das Sprechen so verändert, dass kein Stottern auftritt.

Stottermodifikation

Die Stottermodifikation setzt dabei einen anderen Schwerpunkt. Es wird gewartet, BIS Stottern auftritt (dabei nutzt man auch sehr stark die Fähigkeit Stotternder, herannahendes Stottern vorauszuempfinden) und bearbeitet dann nur das Symptom.
Der/die Stotternde lernt, wie er/sie das Symptom (in aller Regel die momentane Unfähigkeit, ein bestimmtes Wort aussprechen zu können) abbricht oder gar nicht erst auftreten lässt und stattdessen durch eine bestimmte Sprechtechnik wie einen weichen Stimmeinsatz, eine Prolongation aber auch lockere Wiederholungen oder den Pullout exakt das Wort sagt, was er sagen will. (Kein Austausch von Wörtern, nicht vermeiden!)

Stottertherapien, die nach dem Modifikationsansatz arbeiten, schieben dabei in aller Regel zwei weitere, wichtige Phasen vorweg
1.) die Identifikation, das genaue Analysieren des eigenen Stotterverhaltens mit sämtlichen Sekundärsymptomen und
2.) die Desensibilisierung, das heißt das willentliche Stottern in der Öffentlichkeit, um Ängste abzubauen und sich gegen den "worst case" abzuhärten. Dazu gehört auch der offene Umgang mit dem Stottern und eine allgemeine Akzeptanz.

Zu beiden Konzepten ist zu sagen, dass jeder für sich selbst entscheiden muss, welche Technik ihm/ihr am besten liegt.
Wichtig ist, dass die Therapieeinrichtung dem/der Patient*in keine Versprechungen macht wie "Wenn Sie diese Technik konsequent anwenden, brauchen Sie nie wieder zu stottern", denn das wäre unrealistisch.
Auch das Vorgeben bestimmter Zeitabschnitte wie "in zwei Wochen sind Sie dann flüssig" zeugt von einer unseriösen Vorgehensweise.

Auch die Phase der Desensibilisierung (s. auch Die Bedeutung der Desensibilisierung) kann nicht mit einer festen Zeit vorausgesagt werden. Auch bereits abgebaute Angst kann mit einem Rückfall in die Stottersymptomatik wieder auftreten und muss dann systematisch erneut reduziert werden. Also auch hier kann kein Therapeut der Welt sagen: "In drei Wochen sind sie Ihre Ängste ein für allemal los!"

Es ist allgemein bekannt, dass Angst, Unsicherheit, Selbstabwertung, Scham, Aufregung etc. zu den stärksten Triggern des Stotterns gehören. Eine Therapie, die das Stottern als reines "Sprechproblem" betrachtet und diese psychischen Verstärker nicht systematisch angeht, wird vermutlich nicht von langer Wirkung sein.

Dabei halte ich (das ist meine persönliche Meinung) den Ansatz: "Durch konsequentes Anwenden der Sprechtechnik entsteht Sprechsicherheit --> Durch Sprechsicherheit schwinden die Sprechängste --> keine Sprechangst erzeugt Sprechfreude" für problematisch.
Denn die Erfahrung zeigt, dass Sprechtechniken nicht immer funktionieren. Insbesondere wenn man für den "worst case" (also plötzlich auftretendes, schweres Stottern) nicht gewappnet ist, kann die Wirkung einer anfangs positiv verlaufenen Therapie mit einemmal zunichte gemacht werden.

Neben dem psychischen Schaden, den eine solche Person nimmt, sinkt auch das Vertrauen generell in einen möglichen, neuen Anlauf mit einem neuen Konzept.
Ist der/die Stotternde jedoch auf den "worst case" vorbereitet, das heißt dass es ihm nichts mehr ausmacht, auch mal offen zu stottern (er sollte dies auch immer wieder üben, indem er in bestimmten Situationen bewusst Stottern zulässt), dann bleibt ihm immer neben der Möglichkeit, seine Sprechtechniken anzuwenden, auch die Möglichkeit, sich angst- und schamfrei durch seinen Satz durchzustottern.

Dazu kommt noch folgendes: spontanes Sprechen, wie es nicht stotternde Menschen produzieren, besteht aus höchstgradig automatisierten Abläufen.
Das Sprechen Stotternder wird immer wieder unterbrochen durch die reale Unfähigkeit, das geplante Wort zu produzieren.
Der Einsatz von Sprechtechniken jeder Art ist eine mentale Leistung, die viel Konzentration erfordert (und möglichst nicht von psychischen Lasten beeinflusst sein sollte).

Ich kenne viele Menschen, die reine Fluency Shaping-Therapien absolviert haben, jedoch den Schritt nicht geschafft haben, sich die neue Sprechweise zu eigen zu machen. Sie mag für den Außenstehenden wohlklingend sein, für den Betroffenen jedoch fühlt es sich so an, als spräche man ständig mit einer fremden Stimme oder in einer Rolle. In einer solchen Rolle, in der man nicht "ich selbst" sein kann, eine Liebeserklärung zu machen oder emotional aufgewühlt von einem Erlebnis zu berichten, ist praktisch unmöglich.

Wer die Stottermodifikation anwendet, braucht sehr viel weniger Konzentration, weil er nur das jeweilige Symptom bearbeitet. Erfahrungen zeigen auch, dass mit einem vorausgegangenen Angstabbau häufig eine Reduktion der Symptomhäufigkeit einhergeht. Das heißt, er/sie muss vielleicht in einem Satz nur zweimal seine/ihre Technik anwenden, um weitestgehend unauffällig zu sprechen.

Ein wunderbares Beispiel für meisterhaft eingesetzte Modifikationstechniken hört ihr bei @Stefan Budinger in seinem Stotter-Podcast, z.B.: hier.

Egal welcher Technik man sich zuwendet; es ist enorm wichtig, sie immer wieder in der Öffentlichkeit zu üben und sich auch gegen dieses, mehr oder weniger verfremdete Sprechen zu desensibilisieren.

Ich freue mich auf / über eure Ergänzungen oder eigene, andere Erfahrungen!
Danke fürs Lesen
Petra