Hallo, liebe Mitglieder!

Nachdem das Forum der BVSS leider geschlossen wurde, habe ich diese tolle Seite gefunden. Gerne möchte ich mich Euch vorstellen:

Ich bin 20 Jahre und komme aus dem schönen Süden Deutschlands. Das Stottern fing ziemlich spät, ca. im Alter von 10 Jahren, an. Damals wechselte ich von der Grund- auf die Mittelschule einer Nachbargemeinde und war als "die Neue" in der Klasse eine leichte Zielscheibe für Hänseleien. Ich konnte mich mehr schlecht als recht dagegen wehren und ging morgens oft mit Bauschmerzen zur Schule. Irgendwann bemerkte ich beim Vorlesen, dass ich Schwierigkeiten hatte, Wörter auszusprechen, sodass ich mitten im Text einfach stockte, weil ich das Gefühl hatte, gleich stottern zu müssen. Die Lehrerin oder der Banknachbar, der mir das Wort laut vorsagte und manchmal verzweifelte, weil ich nicht weiterlas, versuchten mir zu helfen. Aus Scham sagte ich dann lieber gar nichts. Das wiederholte sich immer öfter und die Angst, mich am Unterricht zu beteiligen, wuchs. Von da an baute ich mir eine Strategie auf, damit niemand merkt, dass ich länger zum Sprechen brauche und die Wörter oft nicht so aus dem Mund kommen, wie sie eigentlich sollten. Das Ärgern war nach einem ernsten zwischen Lehrer und Schüler von heute auf morgen vorbei, aber das "versteckte" Stottern blieb - bis heute.

Gedichte oder Referate waren ganz schlimm. Schon Tage vorher konnte ich fast nichts essen und schlecht schlafen. In der 7. Klasse musste ich ein Gedicht aufsagen. Ich ging zum Lehrer und fragte, ob ich es aufschreiben kann, weil mir der Vortrag so schwerfällt. Vom Stottern habe ich nichts erzählt, er fragte auch nicht weiter nach.

Zur Vorbereitung auf die spätere Abschlussprüfung musste ich eine Projektarbeit, zusammen mit drei MitschülerInnen, abliefern. Neben dem - für mich einfacheren - schriftlichen Teil gab es leider auch eine praktische Aufgabe. Nach wochenlanger intensiver Vorbereitung und viel Schreibarbeit stand ich mit zitternden Händen und Knien vor den Lehrern und meinen Gruppenmitgliedern. Mein Puls war bei gefühlten 200 Schlägen pro Minute. Die absolute Stille im Raum machte mich noch nervöser. Alle warteten gespannt darauf, dass ich anfing zu reden, aber mein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Nur die Lippen bewegten sich, ich brachte keinen Ton heraus. Schließlich kam mein Klassenlehrer zu mir nach vorne und versuchte mir Mut zu machen, vom Stottern wusste auch er nichts. Nach endlosen Minuten las ich stockend die Überschrift des Textes. Das zog sich durch den ganzen Vortrag. Zum Schluss lies ich schon Abschnitte aus, damit ich schneller fertig war. Danach wäre ich am liebsten im Erdboden versunken, weil ich genau wusste, warum ich mir die Note so versaut hatte, konnte aber mit niemandem darüber sprechen. An das beschämende Gefühl kann ich mich noch erinnern, als wenn es gestern gewesen wäre. Letztendlich waren die Lehrer sehr gnädig und gaben mir trotzdem eine "3". Vielleicht haben sie etwas geahnt?

Ein Jahr später stand der Abschluss an. Die schlechte Erfahrung hatte ich natürlich im Hinterkopf. Die Nervosität war noch schlimmer, als beim letzten Mal. Ferner wusste ich, auf was es ankam: Das Endergebnis meines Schulabschlusses, mit dem ich mich für einen Beruf bewerben musste. Der Sprechbeginn kostete mir wieder ganz viel Überwindung, aber mir gelang durch tricksen (mit Floskeln wie "ähm" oder "äh") und austauschen "schwieriger" Wörter ein einigermaßen flüssiges Referat. Da fiel mir ein Stein vom Herzen!

Noch vor der meiner Ausbildung begab ich mich zwei Jahre in logopädische Behandlung. Mit meiner Logopädin verstand ich mich super, jedoch konnte ich die in der Therapie vermittelten Inhalte (nach Charles Van Riper) im Alltag nicht anwenden. Auch bei meinem größten, immer noch bestehenden Problem, das Stottern endlich in der Öffentlichkeit, aber vor allem bei meiner Familie, zu zeigen, konnte sie mir leider nicht langfristig helfen.

In der Berufsschule wussten nur die beste Freundin und in den letzten beiden Klassen dann auch die Lehrer, dass ich stottere. Das Lesen blieb mir größtenteils erspart und bei Referaten wurde nicht danach bewertet WIE ich etwas, sondern WAS ich sagte. Weil ich für jedes Fach einen anderen Lehrer hatte, informierte ich nur den Klassen- und Deutschlehrer, dort war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich drankam. Bei den anderen musste ich trotzdem lesen, auch wenn ich mich nicht gemeldet hatte. Das schlug ein, wie eine Bombe. Oft brachte ich auch da keinen Ton heraus.

2018 habe ich die Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten (Arzthelferin) erfolgreich abgeschlossen und arbeite seit Oktober in einer allgemeinmedizinischen Praxis. Ein recht mutiger Job, der mir trotz Stottern Spaß macht. Auf der Arbeit versuche ich, so gut es eben geht, zu vermeiden und Wörter auszutauschen, um flüssig zu sein. Das ist extrem anstrengend, aber dieses Verhalten hat sich mit den Jahren schon automatisiert.

Im August letzten Jahres fuhr ich zum ersten Mal auf ein Seminar der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe. Zu wissen, dass man mit seinen Sorgen und Ängsten, in Bezug auf das Sprechen, nicht alleine ist, tut unglaublich gut. Dort habe ich viele, nette Menschen kennen gelernt und konnte mein Stottern zum ersten Mal ohne schlechtes Gewissen zeigen. Das Schöne: Die Reaktionen darauf waren nicht abwertend oder ungewöhnlich - es wurde akzeptiert und als selbstverständlich hingenommen. "Nobody is perfect!"

Sorry, für die ausführliche Vorstellung. Danke, dass Ihr den Text bis zum Schluss gelesen habt.

Liebe Grüße

N1999

Hallo N1999,

interessante Geschichte. Ich denke vor allen Dingen, es nimmt auch sehr viel Druck, wenn man offen mit dem Stottern umgehen kann :)
Fällt es dir jetzt auch leichter, dein Stottern vor "Nicht-Stotternden" zu zeigen?