Hallo Petra,
ich finde die Vorstellung von der mehrspurigen Straße nicht hilfreich. Sprechen erfordert das koordinierte Zusammenspiel vieler verschiedener Teile (Netzwerke) des Gehirns. Diese koordinierte Zusammenspiel ist beim Stottern gestört.
Das muss nicht daran liegen, dass ein Teil des Gehirns zu schwach oder unterentwickelt ist – es kann ebenso gut daran liegen, dass ein Teil des Gehirns übermäßig kräftig ist, zu oft die Führung übernimmt und dadurch das harmonische Zusammenspiel der Teile stört.
Beispielsweise ist jede Aktivität, auch das Sprechen, ein sensomotorischer Vorgang, d.h. die motorische Steuerung und das Wahrnehmungs-System müssen zusammenwirken. Wenn nun der motorische Antrieb zu viel Übergewicht hat, und sich von der Wahrnehmung löst, dann ist das wie wenn jemand beim Gehen nur das Ziel vor Augen hat und nicht auf den Weg achtet. Die Gefahr, zu stolpern ist dann ziemlich groß.

Was haben Wissenschaftler bisher zum Thema Stottern unter anderem herausgefunden?

In Bild der Wissenschaft vom 02.08.2002 erschien folgender Artikel:

„Stotterern fehlen Nervenverbindungen im Gehirn

Stotterer haben veränderte Nervenbahnen im Gehirn. Das fanden Forscher aus Hamburg und Göttingen mit Hilfe tomographischer Aufnahmen des Kopfes heraus. Über ihre Entdeckung berichten sie in der Ausgabe des Fachmagazins "Lancet". Sommer M, Koch MA, Paulus W, Weiller C, Büchel C. Disconnection of speech-relevant brain areas in persistent developmental stuttering. Lancet 2002;360:380-383.

Die Forscher Dr. Martin Sommer und Dr. Christian Büchel haben fünfzehn Stotterer und ebenso viele Nichtstotterer untersucht. Bei den sprachgestörten Menschen fanden sie, dass ein Zentrum in der linken Hirnhälfte, das die Sprechakte plant und mit einer korrekten Grammatik versieht, nur schlecht mit dem motorischen Zentrum des Gehirns verknüpft ist. Das motorische Zentrum ist unter anderem für die Bewegungen des Kehlkopfes verantwortlich. Bei sprachgestörten Menschen fehlt in den Verbindungsbahnen zwischen den beiden Zentren etwa ein Drittel der normalen Nervenmasse, erklärte Büchel gegenüber ddp.“

"Diese Abweichung entsteht wahrscheinlich in der Phase zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, in der viele Kinder vorübergehend stottern", erklärt der Forscher. Bei etwa einem Prozent der Kinder entwickelt sich die Sprachstörung nicht zurück.

Aufgrund früherer Untersuchungen ist es wahrscheinlich, dass die Abweichungen im Gehirn eine genetische Ursache haben, sagt Büchel. Da Frauen seltener betroffen sind als Männer, liegt die Ursache möglicherweise in den Geschlechtschromosomen. Dieser Sache wollen Büchel und seine Kollegen nun mit weiteren Studien auf den Grund gehen.
ddp/bdw - Andreas Wawrzinek

Lt. einer Pressemitteilung vom 24.05.2007 stellte Prof. Dr. Katrin Neumann vom Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M. u.a. fest, dass beim Stottern der Sprechablauf in der umgekehrten Reihenfolge gestartet wird. Zuerst wird die Sprechmotorik initiiert und dann erst die Sprechplanung. Durch gezieltes Üben lässt sich die richtige Reihenfolge wieder erarbeiten und kann automatisiert werden.

„Erst die (Re-)Aktivierung linksseitiger Netzwerke bewirkt beim Stotterer ein flüssigeres Sprechen dank eines besseren Timings in der Sprachproduktion. Dabei wirken Techniken zum flüssigeren Sprechen als externe "Schrittmacher" und synchronisieren die Signalübertragung zwischen den Sprechzentren in der linken Hirnhälfte für das Verstehen von gehörter Sprache, für die Planung der Sprechmotorik (der Broca-Region) und der Ansteuerung der Sprechmuskeln“, erklärt Neumann. Denn erst das einwandfreie Zusammenspiel dieser Areale ermöglicht das reibungslose Sprechen.

Meine Vorstellung ist, dass meine Sprechplanung mit der motorischen Ausführung meiner Worte nicht so stabil vernetzt ist, und sie unter höherer Anspannung störanfällig ist. Aber da ich im mentalen Bereich für mich einen guten Weg gefunden habe, solche Anspannungen zu minimieren, kann ich bestens mit diesem Defizit leben.

LG Roland

Hallo Petra und Roland,

Wie gesagt, ich halte das Bild von der fehlenden Straße für falsch. Es bis jetzt nicht erwiesen, dass im Gehirn von Stotterern etwas fehlt, und dass dieses Fehlen die Ursache des Stotterns ist.

In der Untersuchung von Martin Sommer und Kollegen aus dem Jahr 2002 wurde eine verminderte fraktionelle Anisotropie (in der Diffusion der Wassermoleküle) in einem bestimmten Bereich weißer Fasern festgestellt, und daraus schlussfolgert man, dass das Faserbündel dort von geringerer „struktureller Integrität“ oder geringerer Dichte. Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass die Myelinhüllen (eine fettige Isolierschicht) um die Fasern dünner ist. Die Dicke dieser Umhüllung ist aber u.a. davon abhängig, wie häufig die Fasern aktiviert (also benutzt) werden – es es ähnlich wie beim Training eines Muskels: Je häufiger Fasern aktiviert werden, um so dicker werden die Myelinhüllen.

Das alles wusste man 2002 aber noch nicht. Der Zusammenhang zwischen Faserdichte und Training ist erst später entdeckt worden Deshalb glaubten Martin Sommer und sein Team damals, sie hätten wirklich die strukturelle Ursache des Stotterns entdeckt. Ich schreibe über diese Dinge ausführlicher auf meiner Website – hier.

Das Zitat von Katrin Neumann bezieht sich auf die Studie von Riita Salmelin und Kollegen aus dem Jahr und ist korrekt. Hier wird nicht behauptet, dass etwas fehlt, sondern es wird gesagt, dass etwas in der falschen Reihenfolge abläuft: Bei den Stotterern werden die motorischen Areale zu früh aktiv – sie drängeln sich gewissermaßen vor. Bei den Nichtstotterern dagegen wurde zuerst die Broca-Region aktiviert – das ist der Teil auf der linken Hirnhälfte, der für die Integration von Bewegung und Wahrnehmung „zuständig“ ist. Die Broca-Region erhält über ein langes Faserbündel Informationen von der Region, die die Hörinformationen verarbeitet.

In eben diesem Faserbündel haben M. Sommer und Kollegen (und danach noch viele andere Forscher) eine verminderte fraktionelle Anisotropie festgestellt. Bei Untersuchungen der Aktivität der Hirnregionen wurde bei Stotterern eine verminderte Aktivierung der Broca-Region und der Hörregionen festgestellt. Wir können daher annehmen, dass auch die Verbindungsfasern zwischen beiden vermindert aktiviert werden, und dass die dünneren Myelinhüllen die Folge davon sind.

Deine eigene Vorstellung, Ronald, dass die Sprechplanung mit der motorischen Ausführung nicht so stabil vernetzt ist, trifft die Sache viel besser – nur ist es so, dass die Leitungen des Netzes vorhanden und funktionstüchtig sind. Wir merken das immer dann, wenn wir flüssig sprechen können. Es geht auch nicht eigentlich um Planung, denn erstens planen wir nichts, wenn wir spontan sprechen, und zweitens wissen wir immer genau, was wir sagen wollen, wenn wir in einem Block stecken. Es geht vielmehr – und darin sind die Wissenschaftler inzwischen einig – um die „sensomotorische Integration“, also um das Zusammenspiel von Motorik und Wahrnehmung.

LG Tosten

Zitat von Torsten Hesse im Beitrag #5

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Deine eigene Vorstellung, Roland, dass die Sprechplanung mit der motorischen Ausführung nicht so stabil vernetzt ist, trifft die Sache viel besser – nur ist es so, dass die Leitungen des Netzes vorhanden und funktionstüchtig sind. Wir merken das immer dann, wenn wir flüssig sprechen können. Es geht auch nicht eigentlich um Planung, denn erstens planen wir nichts, wenn wir spontan sprechen, und zweitens wissen wir immer genau, was wir sagen wollen, wenn wir in einem Block stecken.

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Zitat von Roland Pauli im Beitrag #6

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Auch wenn die Planung abgeschlossen ist, kann für mich die Reizweiterleitung für die sprechmotorische Ausführung störanfällig sein.

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Zitat von Torsten Hesse im Beitrag #7

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Wenn die Reizweiterleitung plötzlich unterbrochen wäre, dann würden die Muskeln keine Impulse vom Gehirn oder vom Rückenmark mehr empfangen, sie würden erschlaffen und sich entspannen. Das ist aber nicht die Erfahrung, die wir beim Stottern machen

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Zitat von Roland Pauli im Beitrag #8

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Nachdem ich trainiert hatte, mit Gelassenheit auf solche Situationen zu reagieren, sind meine endlosen verkrampften Blocks verschwunden.

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Wie ich schon schrieb: Katrin Neumann bezieht sich da auf eine Studie von Riita Salmelin und Kollegen aus dem Jahr 2000. Es wurde festgestellt, dass bei den nicht stotternden Versuchspersonen zuerst die Broca-Region (also das linke frontale Sprachareal auf der Großhirnrinde aktiviert wurde und danach das motorische Areal – und bei den Stotterern war es umgekehrt. So weit die Fakten.

Es ist üblich, zu sagen, dass die Broca-Region für die „Sprechplanung“ zuständig ist (Salmelin u. Koll. schrieben:"articulatory programming") – aber was ist darunter genau zu verstehen? Beim spontanen Sprechen plane ich ja nichts – jedenfalls nicht bewusst. Spontanes Sprechen ist wie lautes Denken. Die motorischen Programme für das Artikulieren der Wörter rufe ich aus dem Gedächtnis ab, und auch Satzbau und Grammatik mache jch automatisch. Was geschieht also in der Broca-Region wirklich?

In der Broca-Region endet ein wichtiges Faserbündel, dass von der Wernicke-Region, also dem Areal der Sprachwahrnehmung auf der Großhirnrinde herkommt.Über dieses Faserbündel ist die Broca-Region mit der Hör-Rückmeldung des Sprechens verbunden (und auch mit den anderen sensorischen Rückmeldungen, z.B. der Atembewegung). Was in der Broca-Region tatsächlich passiert, ist die sensomotorische Integration, d.h. die Einbeziehung der Wahrnehmungs-Informationen in die motorische Steuerung.

Wenn das motorische Areal zeitlich vor der Broca-Region aktiviert wird, dann heißt das, dass die Motorik sich von der Wahrnehmung abgelöst hat und ihr vorauseilt. Das ist, wie wenn jemand beim Laufen nur auf das Ziel los strebt und weder auf den Weg noch auf die eigenen Beine achtet. Die meisten Leute nehmen den Weg und ihre Beine automatisch wahr, und so stolpern sie nicht. Diese automatische Wahrnehmung, oder die Integration der Wahrnehmung in die Bewegungssteuerung – das ist es, was bei Stotterern nicht gut zu funktionieren scheint.

[1] Salmelin, R., Schnitzler, A., Schmitz F, & Freund, H. J. (2000). Single word reading in developmental stutterers and fluent speakers. Brain, 123, 1184–1202.

Schon faszinierend was die Hirnforschung zu Tage bringt.
Dass im Vergleich zwischen Stotterern und nicht-stotternden sich im Scan etwas abzeichnet, wenn es im Gehirn stattfindet, ist schon einleuchtend.
Die Hirnforschergilde sollte sich nun mal dranmachen therapierte oder entwöhnte Stotterer zu scannen um festzustellen ob sich etwas verändert hat.
Damit könnten durch Empirik die Therapien verfeinert werden.
Zum Bild oder Vergleich mit der Straße:
Der Autofahrer fährt auf einer Straße, im Gepäck eine Botschaft mit dem Auftrag diese an einen Empfänger auszuhändigen.
Die Staße ist eng und kurvenreich, ständig prasseln Steinschläge auf die Fahrbahn, Sturzregen kommen herunter, die Scheibenwischer packen die Mengen nicht... die Intrumente fallen aus... der Fahrer hat keine Kontrolle über Geschwindigkeit und Richtung, irgendwie so.
Der Stotterer stottert weil die Sprachsteuerung mit Hörrückkoppelung = Regelung klemmt. Fragt einen ehemaligen Regelungstechniker...

Grüße Johannes

Zitat von Ruhrfreund im Beitrag #12

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Fragt einen ehemaligen Regelungstechniker...

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Zitat von PetraS im Beitrag #14

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Wäre schön, wenn jemand, der mehr darüber weiß, sich mal melden könnte.

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