Hallo @Eberhard ,
du stößt ja mal wieder eine spannende Frage an.

Zitat von Eberhard im Beitrag #1

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Was das mit Stottern zu tun hat? Nun, wer ähnliche Erfahrungen gemacht hat, bei dem war es sicher eine Ursache dafür, dass er nicht mehr mit dem Stottern aufhören konnte, Stottern kann dann auch eine Schutzfunktion haben.

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Das hier halte ich - in meinem Falle - für absolut ausgeschlossen. Ich war immer ein sehr angepasster, harmoniebedürftiger Mensch, der immer klein beigab und sich niemals durchsetzte. Auch wenn meine Mutter behauptete, ich sei stur und dickköpfig - das galt aber nur innerhalb der Familie. Innerhalb meiner Peer-Group tat ich alles, um akzeptiert zu sein - auch wenn ich auf die Leute wütend war. Ich konnte sofort verzeihen, wenn sie nur nett zu mir waren.
Das sehe ich heute als Makel an, macht es mich doch unfähig, mein Recht durchzusetzen oder scharf zu verhandeln.

Zitat von Eberhard im Beitrag #1

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Aber es gibt auch einen anderen Aspekt: Warst du in deinem Leben oft wütend auf dein Stottern? Und du konntest deine Wut nicht äußern, weil kein Schuldiger da war und weil du dich wegen deines Stotterns eher geschämt hast und niemandem von deiner Wut darauf erzählen konntest? Weil du ein Gefühl von eigener Unfähigkeit oder Minderwertigkeit gehabt hast?

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Ich war eigentlich nicht wütend, sondern ich war verzweifelt, weil ich das Gefühl hatte, machtlos zu sein gegen etwas, das in mir war, und das ich nicht kontrollieren konnte. Ich erinnere mich, wie ich einmal nach der Schule (etwa mit 14 Jahren) dasaß und dachte: ICH bestimme doch, was ich sagen will, wer oder was hat denn da die Macht, das zu verhindern?"
Und - ja - dann kam das Gefühl der Unfähigkeit und der Minderwertigkeit, und sprechen konnte ich darüber auch mit niemandem. Weil es in der Familie absolut tabu war. Meine Mutter hatte mir ja frühzeitig zu verstehen gegeben: "Du stotterst nicht, du kriegst nur die Wörter nicht richtig raus."
Es gab also keinen Namen für das, was ich hatte. Und Stottern war es ja Gott sei Dank! nicht. Denn so, wie sie es mir gegenüber kommunizierte, war Stottern das Schlimmste, was ein Mensch tun könnte. Umso mehr traf es mich, wenn andere mir ins Gesicht sagten: "Du stotterst!"
Dann fühlte ich mich wie der Total-Versager.

Zitat von Eberhard im Beitrag #1

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Ich wurde mal von einem Englischlehrer nach vorne geholt und sollte etwas auf Englisch sagen. Ich blieb an einem Wort hängen und der Lehrer ließ mich gefühlte 5 Minuten vor der Klasse an dem Wort herumwürgen. Heute kann ich mir sagen, dass dieser Mann ein verhärteter Mensch und ein unfähiger Pädagoge war, damals konnte ich das nicht und bin wie ein geprügelter Hund davon geschlichen. Es ist wichtig, solche Situationen heute aufzuarbeiten und vor sich selbst richtig zu stellen.

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Dein Englischlehrer erinnert mich an meinen Klassenlehrer in der 6. Klasse. Er war 74 Jahre alt (Jahrgang 1900) und hatte sich freiwillig gemeldet, weil damals der Lehrermangel so extrem hoch war. Er hatte schnell diagnostiziert, dass ich stottere und verlangte von mir, dass ich damit aufhöre, weil es eine schlechte Angewohnheit sei.
Aus heutiger Sicht UNMÖGLICH! Sowas dürfte auf Kinder gar nicht losgelassen werden. Damals waren Lehrer noch so eine Art Heilige, meine Eltern hätten so einem niemals widersprochen - immerhin haben sie beide nur die Volksschule besucht.
In der Zeit war ich oft wütend, und ich habe diese Wut in mich hineingefressen, weil ich kein Ventil hatte, sie loszulassen. Und in der Zeit habe ich auch Verhaltensauffälligkeiten entwickelt, habe mich einmal wie ein Verräter verhalten (einige Mädchen verpfiffen, die Scheiße gebaut hatten), und ich weiß heute wie damals, dass es nur war, weil ich von ihm gelobt werden wollte und damit er endlich aufhört, mich wegen meines Stotterns zu kritisieren.

Das ist überhaupt das Schlimmste, was ich in meiner Aufarbeitung als Nebenwirkungen des Stotterns entdeckt habe, und was ich auch schon hier beschrieben habe.
Dass das Stottern das Verhalten eines jungen Menschen prägt, dass es seine Persönlichkeit verändert.

Wenn man hätte therapeutisch etwas tun können, dann an dieser Stelle, finde ich. Und ich finde auch heute, dass eine der wichtigsten Aufgaben von Therapeuten ist, solche Veränderungen in der Persönlichkeit eines jungen Menschen früh zu erkennen und dagegen etwas zu tun. Damit man eben "nur" stottert.

Zitat von Chiara im Beitrag #3

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@Eberhard Als wir uns vor einigen Tagen im Skypechat austauschten, da warst du der Meinung, dass ich mich zu viel mit meinem Stottern befasse, dass sich bei mir alles um Stottern dreht.
Das ist schon so. Aber seit ich das tue, geht es mir sehr viel besser. Während ich hier tippe und dabei meine Gedanken sortiere, merke ich, dass ich dabei zur Ruhe komme.

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Ich kann @Chiara nur beipflichten, dass es mir guttut, all diese Dinge aufzuarbeiten.
Ich hatte eigentlich überhaupt keinen Grund, das Thema wieder aufzugreifen, ich arbeitete erfolgreich als Dolmetscherin und Übersetzerin und war niemals negativ als Stotternde aufgefallen. Und wenn ich ab und zu kleine Sprechschwierigkeiten fühlte, half mir die Erinnerung an die Worte eines Phoniaters, der mir mit 20 mal sagte: "Wenn du noch bis 16 gestottert hast, dann stotterst du auch jetzt noch. Stottern ist nicht heilbar."

Ich habe auch das Thema Stottern nicht aufgegriffen, sondern das Thema Stottern mich. Es überkam mich vor nunmehr 7 Jahren durch einen Radiobeitrag und ließ mich nicht mehr los. Ich habe mir sogar psychologische Hilfe gesucht, weil mich dieser Umstand so aus der Fassung brachte.
Seither habe ich aber gemerkt, dass nur die Flucht nach vorne hilft. Nicht wieder verdrängen, wie ich es all die Jahr gemacht hatte, sondern aufarbeiten. Drüber reden, drüber schreiben, die Gedanken sortieren.

Und zum Punkt "Flucht in Traumwelten"... Ich habe schon als Kind ständig Geschichten geschrieben, habe mich sprachlich ausgetobt und bin inhaltlich in Traumwelten abgedriftet. Ich habe mich selbst daran erfreut, wie schön ich schriftlich mit Sprache umgehen konnte, weil ich beim Sprechen so oft Chaos produzierte. Sätze, die ich nie so sagen wollte, wie ich sie letztendlich aussprach. Darin kann ich mich voll wiederfinden.
Na ja, soviel zu meiner Sicht der Dinge